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Wein und Weisheit

Angeblich liegt im Wein ja ganz viel Wahrheit. Oder ist es in Wahrheit viel Weisheit, die im köstlichen Trank steckt? Gitti und ich versuchen heute, diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Oder dem Weinglas? Ach, ich weiß es auch nicht so genau!

Heute jedenfalls fahren wir zur Kellerei unseres Vertrauens. Dort werden wir unsere Jahres-Weinbestellung aufgeben und natürlich das eine und das andere Tröpfchen verkosten. Aus taktischen Gründen vertrauen wir uns dem öffentlichen Nahverkehr an.

Schon auf dem kurzen Weg zur S-Bahn ereilen uns erste Erkenntnisse. Ein Kind steht am Wegesrand. Es hält einen Zweig in der mit einem Fäustling vor der Kälte geschützten Hand. Damit stochert es gedankenverloren unter der kleinen Hecke herum, die den Bürgersteig säumt. Überhaupt ist das Kind gut eingepackt. Es trägt eine dicke, gut gepolsterte Hose und eine warme Plüschjacke, auf dem Kopf sitzt eine Mütze mit großen runden Ohren. Mit einer wackligen Drehung zur Seite präsentiert das Kind seinen weißen, plüschigen Schal. Als was haben die Eltern des kleinen Erdenbürgers ihr Kind da bloß verkleidet? Soll es ein Koala sein? Möglich. „Koalas fressen ausschließlich Eukalyptus“, sage ich zu Gitti, und sie lässt mich daraufhin wissen, dass Kinder dieser Größe mitunter nur Nudeln mit Tomatensoße essen. Koala und Kind verbindet also die monothematische Ernährung. Liegt das an der Mütze? Sind die Eltern verantwortlich? Man weiß es nicht …

Die S-Bahn fährt pünktlich ein und nimmt uns mit. Gitti und ich kuscheln uns in die Sitze und beobachten ein wenig die mit uns reisenden Fahrgäste. Gitti fröstelt es. Ich folge ihrem Blick und sehe die bloßen Füße des Mannes schräg gegenüber, die scheinbar ohne Socken in seinen Sneakers stecken. Jetzt ist mir auch kalt! Mist! Empathie ist nicht immer hilfreich. Ich reiße meinen Blick also wieder los und erkunde nicht weiter, ob der Mann wenigstens auch friert.

Oberhalb des Fensters klebt ein Schild, da steht drauf: „105 Tonnen S-Bahn fegen Dich schneller weg, als Du ‚Kehrwoche‘ sagen kannst.“ Der Verkehrsverbund macht uns so auf die überall lauernden Gefahren aufmerksam. Danke. Auf kleineren Schildern bittet man uns um Feedback: „Machen Sie uns mal eine Ansage!“, steht darauf. Daneben prangt ein QR-Code, der uns direkt auf eine Website lenkt, auf der wir die heutige Fahrt beurteilen sollen.

Gitti und ich gucken lieber ausführlich in der Gegend herum.

Eine junge Frau brabbelt in ihr Smartphone. Sie hält es horizontal und drückt die schmale Seite des Gerätes fest ans Kinn. „Guck mal, eine Ohrmuschel-Verschiebung!“, bemerkt Gitti. In letzter Zeit sehen wir vermehrt junge Leute, deren Ohrmuschel am Kinn zu liegen scheint. Kann ich da auch was hören? Möglichst unauffällig klopfe ich mit dem Finger an mein Kinn. Dabei murmle ich kaum hörbar „Test, Test, Test.“ Der Selbstversuch schlägt fehl. Mein Kinn ist taub. Vielleicht ist aber auch die Versuchsanordnung schlicht schlecht.

Wir erreichen das Ziel unserer Reise. Der Winzer bereitet uns einen herzlichen Empfang und schenkt uns in den folgenden Stunden ordentlich ein. Zum Glück gibt es außer Wein, Sekt und Grappa auch noch etwas zu essen. Wir fachsimpeln ein wenig. Wahrscheinlich blamiere ich mich mit meinen ungelenk gewählten Worten ganz schrecklich, aber irgendwie muss ich versuchen, ihm meine geschmacklichen Bedürfnisse näher zu bringen. Der Winzer trägt es mit Fassung, guckt interessiert und aufmunternd, und er schenkt nach. Immer wieder.

Mir fällt die Frau aus der S-Bahn wieder ein. Ich frage Gitti, ob die Frau vielleicht ihre Worte längs über das Display gehaucht hat, damit sie am anderen Ende des Smartphones besser in den dort quer liegenden Schlitz hineinrutschen können. Vielleicht ist das ja der zuverlässigen Übertragung zuträglich. Gitti zieht eine Augenbraue nach oben. Sie weiß nicht, was ich meine. Also nehme ich mein Smartphone in die Hand, presse die untere, schmale Seite an mein Kinn, neige das Gerät ein wenig nach unten und hauche ein Wort über das Display. Mit der anderen Hand untermale ich den Weg des Wortes: zunächst entlang des Displays, dann mit einer senkrecht nach unten in den Schlitz weisenden Bewegung des Zeigfingers. „Da oben ist doch ein Schlitz im Display!“, rufe ich Gitti zu. „Und genau dort oben verschwindet mein Wort im Gerät!“ Gitti kichert und zieht es vor, noch einmal mit mir anzustoßen.

Wir probieren uns gründlich durch des Winzers Keller. Am Ende notiert dieser unsere Wünsche und drückt uns zum Abschied neben einer Flasche Winzersekt auch noch eine Flasche Grappa in den Arm. Die hat er kurz zuvor eigens für Gitti und mich geöffnet. Da fehlen jetzt nur zwei winzig kleine Schlucke. Beschwingt ziehen wir mit dem Bestellzettel, der vollen Sektflasche und der angebrochenen Grappaflasche wieder zur S-Bahn.

Auf der Heimfahrt denke ich darüber nach, dass wir vermutlich eine veritable Alkoholfahne haben. Gitti ist es egal, was die Leute über uns denken. Sie muss allerdings doch grinsen, als ein zotteliger Herr uns gegenüber Platz nimmt. Vermutlich hat der Herr auch schon bessere Tage gesehen. Mit glasigen Augen zwinkert er uns zu und hypnotisiert die Grappaflasche, die ich im Arm halte. Gut, dass ich seine Gedanken weder durchs Kinn noch durch meine Ohren hören kann! Gitti legt den Kopf an meine Schulter und schnorchelt fast ein. Zu Hause streifen wir Schuhe und Jacken ab – und dann gehen wir geradewegs ins Bett. Morgen schlafen wir genüsslich aus! Danach können wir noch einmal darüber nachdenken, ob nun auf dem Grund des Glases eher Wahrheit oder Weisheit lag … Oder lagen dort nur schlichte Erkenntnisse? Lag da überhaupt etwas? Auf jeden Fall lagen dort keine Kopfschmerzen!!

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