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Wider den Stand

„Der Stand der Dinge ist …“, schnappe ich gerade noch auf, der Rest bleibt mir verborgen. Mitten in der Online-Konferenz reißt für kurze Zeit die Verbindung ab. Das Bild friert ein, der Ton weicht einer nervigen Verbindungsmelodie. Ich weiß selbst, dass ich gerade nichts hören kann!

Nach drei Sekunden werden Ton und Bild wieder sauber und ruckfrei übertragen. Aus dem Teilnehmerkreis möchte sich niemand die Blöße geben, nicht Bescheid zu wissen. An den Gesichtern kann ich jedoch ablesen, dass auch andere nach dem verschluckten Satzende suchen. Ist der Stand der Dinge nun gut oder schlecht oder der, der im Anschluss noch detaillierter dargestellt wird? Wir wissen es nicht!

Soll ich mich jetzt outen, aus der Not eine Tugend machen und einfach darum bitten, die letzten drei Sekunden zu wiederholen? Warum macht das nicht einfach einer von den anderen? Wieso immer ich? Wie wichtig ist mir das jetzt? Fragen über Fragen … und die sind meiner Konzentration auch eher abträglich. So ein Mist!

Ich kämpfe gegen meinen inneren Widerstand an. Mein Kollege Hajo kämpft auch, das sehe ich genau. Ich starre ihm direkt in die Augen. Zugegeben, eigentlich starre ich auf dem Bildschirm die Kachel an, auf der Hajos Bild übertragen wird. So fechte ich unbemerkt mit Hajo das berühmte Beamten-Mikado aus. Hajo verliert, denn er bewegt und outet sich als erster. Danke Hajo!

Am Abend erzähle ich Gitti von der Szene. Sie schüttelt nur mit dem Kopf, als wollte sie mir sagen, dass ich zu alt für solche Spielchen bin. Ausgesprochen hat sie es nicht. Dennoch ist mein Widerstand schon wieder aktiv. „Für solche Spielchen ist man nie zu alt!“, werfe ich ihr also entgegen. Gitti möchte lieber wissen, wie der Stand der Dinge nun ist. Welcher Stand der Dinge? Ich stehe auf dem Schlauch. Nach einer Weile, unsere Unterhaltung dreht sich schon längst um andere Themen, bemerke ich, dass ich ihr noch eine Antwort schuldig bin. „Die Dinge stehen übrigens gar nicht so schlecht“, lasse ich Gitti deshalb wissen. Ich ernte ein: „Hä?“ Also kontere ich flugs mit Gittis eigenen Waffen: „Das heißt ‚Hä bitte?‘!“

Ich muss dringend etwas gegen meine Krawalligkeit tun, die mich heute so fest im Griff hat. Was ist bloß mit mir los?

Früher, als wir immer alle gemeinsam in einem Raum saßen, wenn wir etwas zu besprechen hatten, war es auch nicht besser. Wie oft bekam man da mal was nicht sofort richtig mit? Oft! Sehr oft!! Und das betraf meistens noch nicht einmal mich. Zumindest nicht mich allein! Den anderen erging es nämlich nicht besser, das weiß ich aus verlässlicher Quelle.

Viele Kollegen nuscheln, was das Zeug hält. Da fragt man irgendwann nicht mehr nach, sondern puzzelt sich den Rest einfach zusammen. Hinweise gibt es ja meist reichlich. Online wird übrigens seltener genuschelt. Wieso eigentlich? Oder habe ich den Ton nur lauter gedreht und höre wegen der Kopfhörer weniger Nebengeräusche? Ich werde Hajo bei Gelegenheit mal fragen, wie das bei ihm ist.

Optische, geruchliche und sonstige Ablenkungen gibt es im realen Besprechungsraum reichlicher als im virtuellen. Mir geht es jedenfalls so. Gemeinsam halten wir online die kurzen, unvermeidlichen Latenzzeiten aus, die der Übertragungstechnik geschuldet sind. Wir diskutieren disziplinierter und fallen einander weniger ins Wort. Am Ende wissen die Online-Teilnehmer sogar besser Bescheid, weil sie ihre nebenbei erstellten Notizen mit hilfreichen Screenshots aufpeppen. Dennoch wünschen sich viele die vollständige Rückkehr zu ausschließlich real veranstalteten Treffen.

Schon wieder regt sich mein Widerstand. Ich muss nicht alles fühlen und mit sämtlichen meiner Sinne erfassen! Echt nicht!! Flugs liege ich gefühlt begraben unter tausend Argumenten. Ein Teil davon will mir helfen, meinen freien Willen und meine Souveränität zu behalten. Ein anderer Teil schiebt mich vorsichtig in eine moderatere Richtung. An den realen Treffen ist vieles auch gut, das weiß ich genau und durchaus auch zu schätzen. Ich würde es nur gerne gezielt einsetzen. Mich also real treffen, wenn es dem Ergebnis zuträglich ist – und das Ergebnis kann auch mal ein ganz softes sein. Eben eines, das mit der Beziehung der Menschen zueinander zu tun hat.

Langsam beruhige ich mich wieder. Demnächst, so nehme ich mir vor, werde ich wider den inneren Widerstand einfach mal wieder real im Büro erscheinen. Und dort werde ich wahrscheinlich erstaunt neu feststellen, dass die Kollegen in Wahrheit Ohren haben. Echte Ohren, links und rechts am Kopf angewachsen! Nicht nur Kopfhörer!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ein Hoch auf die Technik, man kann sich da einiges ersparen, frei entscheiden wann man wen treffen möchte, und die reale Konfrontation mit allen Launen und Gerüchen haben wir uns wohl auch schon abgewöhnt 🤭

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