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Zeit empfinden

Die Zeit rennt, es ist schon wieder fast Weihnachten. Wie konnte das denn passieren? Je älter ich werde, desto schneller verfliegt die Zeit. Menschen, die älter sind als ich, haben mir das schon vor vielen Jahren gesagt. Aber so richtig glauben wollte ich es auch nicht. Natürlich hatten sie Recht! Wie mit so vielem. Und doch: Was soll das? Woran liegt das? Kann ich das abstellen?

Vielleicht hat das mit der Menge an Zeit zu tun, mit der ich vergleichen kann. Als ich noch ein Kind war, hatte ich gerade ein paar Jahre lang gelebt und entsprechend wenig bereits erlebt. Damit ist doch klar, dass es bis Weihnachten oder bis zum nächsten Geburtstag gefühlt ewig dauerte, ja dauern musste, oder? Heute ist das von mir bereits gelebte und erlebte Zeitfenster durchaus größer. Also vergleiche ich heute die zwei Tage bis Heiligabend mit mehr als einundzwanzigtausend schon gelebten Tagen. Als Kind war zweimal Schlafen schon lang, besonders, wenn es um Weihnachten ging!

Ist das wirklich so einfach? Es gibt ja Tage, die sind einfach nur öde. Es passiert nichts, rein gar nichts. An solche Tage erinnere ich mich nicht im Detail. Zählen die dann mit? Falls nicht: Ist das ein Jungbrunnen? Zählt nur die Summe der Erlebnisse? Oder die Intensität?

Wenn Gitti und ich aufs Meer gucken können, dann steht die Zeit scheinbar still. Besonders, wenn sich der Tag dem Ende zuneigt. Die Weite des vielen Wassers, die typischen Geräusche, das besondere Licht. All das zieht uns in den Bann. Wir werden ruhig, nichts ist mehr von Belang. Eine tiefe Zufriedenheit breitet sich im ganzen Körper aus.

Hier zu Hause empfinde ich Zeit meistens ganz anders. Sie ist häufig getaktet, rennt und entgleitet mir sogar hier und da. Und ganz oft fehlt sie. Aber stimmt das überhaupt? Wo ist sie dann? Im Kühlschrank jedenfalls nicht, da gammelt nur das Licht herum, das ich vorhin im Flur ausgemacht habe.

Ich gucke, was Gitti da an ihrem Rechner macht und erfahre: Sie erwartet gerade sehnlichst ein Päckchen. Der Paketdienst, der es bringen wird, hat vorgestern mitgeteilt, dass er einen Tag Verspätung haben wird, weil auf der Tour irgendetwas passiert ist. Gestern hieß es, dass der Zusteller heute kommt. Gerade flattert die Nachricht ein, dass er noch zehn Zustellstopps von uns entfernt ist. Es gibt einen Link zu einer Seite, auf der Gitti die Sendung live tracken kann. Mit Straßenkarte. Darauf ein Häuschen für unseren Standort, und ein blinkendes LKW-Symbol für den Ort, an dem sich der Lieferwagen gerade befindet. Wenn wir die noch fehlende Strecke mit dem Auto zurücklegen, brauchen wir dafür weniger als fünf Minuten. Ohne Pakete abzuliefern. Oberhalb der Karte werden die Stopps heruntergezählt. Unterhalb der Karte gibt es einen Button mit der Aufschrift „Status aktualisieren“.

Gitti fiebert mit, stalkt den armen Paketboten per Klick und fragt sich, was er an der einen Stelle, an der es gerade hängt, eigentlich so lange macht. Sie klickt fleißig. Die Aktualisierung nimmt immer einige Sekunden in Anspruch, das fordert Gittis Geduld mächtig heraus. Aha, das Auto bewegt sich nicht, aber die Stopps gehen jetzt auf sieben runter. Da ist der Zusteller also gelaufen, ohne umzuparken. Sie klickt nochmal. Jetzt sind es nur noch fünf. Hat das Auto sich jetzt bewegt? Sie weiß es nicht. Noch ein Klick. Keine Veränderung. Vor dem LKW-Symbol liegt bald eine Strecke, an der es keinen Stopp geben kann, weil da keiner wohnt. Vielleicht sieht Gitti das Symbol dann mal richtig in Bewegung. Gebannt starrt sie die Karte an, die Maus fest im Griff, den rechten Zeigefinger klickbereit einen knappen Millimeter über der linken Maustaste schwebend.

Mittlerweile ist es fünf vor Zwölf. „Der wird doch nicht etwa jetzt Pause machen wollen?!? Steht der etwa vor der Döner-Bude?“, ruft Gitti empört aus. Als wie lang empfindet Gitti jetzt wohl die Zeit bis zur ersehnten Ankunft vor unserer Tür? Und wie nachhaltig wird das sein? Wird sie sich morgen noch daran erinnern?

Plötzlich gerät Gitti in Bewegung. Sie schnellt aus dem Stuhl, rennt mich fast über den Haufen und stürmt zur Toilette. Manches ist eben unaufhaltbar und duldet keinen weiteren Aufschub. Ich stehe unschlüssig herum und warte auf ihre Rückkehr. Aus der Küche hole ich mir ein Glas Wasser, kehre zu ihrem Schreibtisch zurück und werfe einen Blick auf den Bildschirm. Nach einer gefühlt langen Weile klicke ich einfach mal so auf den Button, den Gitti da so alleine zurückgelassen hat. Der Paketbote hat einen riesigen Sprung gemacht, die Zahl der Zustellstopps steht auf eins. Und dann klingelt er schon. Aus der Toilette erklingt ein: „Das war ja mal wieder klar!“

Neulich habe ich irgendwo gelesen, dass ein Mensch nach etwa 50 Millisekunden das Gefühl des Wartens entwickelt. Unabhängig davon, ob er etwas angeklickt hat, einem realen Gegenüber eine Frage gestellt hat oder aus einem anderen Grund eine Reaktion oder ein Feedback erwartet. Hihi, „er-wartet“ trifft es gut, gell? Warten ist nicht so positiv besetzt, dabei kitzelt es des Wartenden Kreativität und fördert seinen Drang zur Aktivität. Deshalb ist die Eieruhr bei Computerprogrammen auch so wichtig. Du brauchst etwas zum Anstarren, was sich bewegt. Sonst ist Dein Misstrauen gesät und Du beginnst, selbst aktiv zu werden und vor allem, das Ding in seinen Abläufen zu stören. Vielleicht randalierst Du ein wenig vor Dich hin, wenn Du Dich ignoriert fühlst? Natürlich nur, um sicherzustellen, dass überhaupt etwas passiert!

Im Maschinenbau kennt man das Problem auch. Stell Dir vor, da ist eine Tür, hinter der sich im Betrieb scharfe Messer schnell drehen oder heißes Wasser verwirbelt wird. Vielleicht passieren hinter dieser Tür auch andere Dinge, bei denen wichtig ist, dass Du auf jeden Fall nicht da bist, während sie passieren. Manches lässt sich leider nicht so schnell stoppen, wie Du Dir Zugang verschaffen möchtest. Und jetzt musst Du warten … mitunter auch mal ganz schön lange.

Für solche Fälle denken Ingenieure sich Sicherungssysteme aus. Sie sorgen dafür, dass Du draußen bleibst, solange es drinnen noch gefährlich ist. Ein paar dieser Systeme beschäftigen Dich einfach. Während drinnen noch die Messer rotieren, musst Du irgendetwas tun. Laufen zum Beispiel. In der Nähe der Tür, die Du öffnen willst, musst Du einen Schlüssel abziehen. Mit dem läufst Du gefühlte hundert Meter weit zu einem Schlüsselkasten. Dort kannst Du Deinen Schlüssel gegen einen anderen eintauschen, der in die Tür passt. Jetzt geht es zurück zur Tür. Die Maschine „weiß“, dass Du den ersten Schlüssel abgezogen hast und beginnt damit, drinnen die Messer zum Stehen zu bringen. So schnell Du auch rennst, Du bekommst die Tür erst auf, wenn es nicht mehr gefährlich ist. Die Maschine lässt sich erst wieder starten, wenn alle Schlüssel an ihrem Platz sind! Andere Systeme stellen Quizfragen. Nur, damit Du gesund bleibst und nichts kaputtmachst!

Wie schon erwähnt, ist das Warten meistens nicht positiv besetzt. Wieviel der Zeit meines Lebens verbringe ich wohl mit Warten? Ich fürchte, der Anteil ist erschreckend hoch. Weil ich aber keine Lust habe, mich davon herunterziehen zu lassen, beschäftige ich mich einfach weniger mit dem Warten. Klar, ich warte dadurch nicht weniger lang, aber ich sorge dafür, es anders zu empfinden! Das ist so ähnlich, wie mit dem Spruch: „Der Weg ist das Ziel.“ Ich kann mich nämlich auch gut selbst beschäftigen. Wartezeiten sind Gelegenheiten und sogar eine schier unerschöpfliche Quelle für tolle Gedanken und Gefühle!! Ich muss sie nur wahrnehmen und etwas daraus machen.

Dann ist mir egal, was wie lange dauert. Ich nutze die Gelegenheit einfach ungefragt, um fröhlich zu sein! Kleines Beispiel: Ich stehe am Kaffeeautomaten, der bereitet meinen Kaffee zu und ich warte. Ganz kurz und nur ein Mal denke ich den Satz: „Ich bin fröhlich.“ Ohne Anlass. Ohne zu prüfen, ob es stimmt. Nur so. Und dann warte ich einfach weiter. Oder nestle am Ärmel herum. Du kannst das auch. Protestiere nicht, mach‘ es einfach!! Überrasche Dich damit doch einfach mal selbst!!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tom

    Sehr schöne Geschichte wieder mal. Das Zeitempfinden kann man auch anders erklären, sehr schön hat das Jerome K. Jerome in seinem Buch „Drei Mann in einem Boot“ beschrieben (aus dem Gedächtnis und frei zitiert)

    Über einem Camp Feuer soll Tee gekocht werden. Jeder, der so etwas schon einmal gemacht hat, weiß: Alle Teekessel sind sadistisch veranlagt: Wenn man sich um das Feuer setzt und darauf wartet, dass endlich das Wasser kocht, wird das ewig dauern und der Kessel kichert in sich hinein.

    Die einzige Lösung ist ein harmloser Betrug. Der eine fängt an „Ich koche Tee, möchtest Du auch welchen?“, der andere antwortet „Nein, eigentlich nicht, aber ich habe noch Bier, möchtest Du vielleicht auch etwas?“ – „Klingt gut, viel besser als Tee“….

    Dann wird, so der Autor, der Kessel innerhalb kürzester Zeit überkochen und das Feuer auslöschen.

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