Sobald etwas über eine Grenze bewegt wird, sind Angaben zu machen. Grundsätzlich. Immer. Auch, wenn ich davon nichts weiter bemerke.
Im kleinen Grenzverkehr zwischen Deutschland und den Niederlanden oder Belgien wurde ich früher gerne mal von einem gelangweilten Zöllner gefragt, ob ich etwas zu deklarieren hätte. Damals ging es meist um Kaffee oder Zigaretten, die in unseren Nachbarländern zu deutlich niedrigeren Preisen veräußert wurden als bei uns. Wenn dem Zöllner besonders langweilig war oder ich vielleicht etwas zu aufmüpfig geguckt habe, wurde auch mal mein Auto gefilzt. Zu der Zeit gab es die Abkommen noch nicht, auf deren Grundlage ich mich heute weitgehend unkontrolliert bewegen kann.
Sowohl im Zöllner als auch in mir stieg dann immer Frust auf. Mich störte schon die Prozedur an sich, zudem musste ich das Gefühl niederkämpfen, gegängelt zu werden. Die schöne Zeit hätte ich gerne anders verbracht. Jedes Mal hoffte ich inständig, dass nicht doch noch eine Stange Zigaretten unter den Sitz gerutscht ist, von der ich längst nichts mehr wusste. Der Zöllner war am Ende frustriert, weil er wieder einmal nichts gefunden hatte und sich noch nicht einmal das Gespräch mit mir gelohnt hatte. Schließlich war ich ja beleidigt und deshalb recht einsilbig. Nie erfuhr er, welche krawalligen Antworten auf meinen Lippen lagen und wie schwer es mir fiel, sie am Übertritt der Grenze zwischen Mundhöhle und Außenwelt zu hindern. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet, war auch ich eine Art Zöllnerin. Gemeinsam standen wir durch, was durchzustehen war und bemühten uns darum, uns gegenseitig wenigstens etwas Respekt zu zollen.
Angaben aller Art sind zu machen, selbst wenn dabei keine großen Landesgrenzen überschritten werden, sondern nur ganz kleine und unauffällige Grenzen, wie beispielsweise die gemeine Ladentheke. Zu unserem eigenen Schutz werden wir bereits an dieser Grenze informiert, dass es kracht.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin ernsthaft froh darüber, dass ich permanent über irgendetwas informiert werde! Dabei fühle ich mich frei, die vielen Deklarationen wahlweise zu lesen oder zu ignorieren. Manchmal überfordern mich die vielen Angaben und meistens interessieren sie mich gar nicht. Auf der seltenen Suche nach einer bestimmten Information zu einem Produkt scheitere ich gerne mal an Schriftgrößen oder finde die Stelle nicht gleich, an der steht, wonach ich suche. Bei Piktogrammen muss ich mitunter raten, was das komische Symbol bedeuten könnte. Ganz oft fällt am Ende die Entscheidung darüber, ob das Ding nun die Eigentumsgrenze zu mir hin überschreiten wird, auf einer ganz anderen Basis. Diese andere Basis hat viel mit Gefühl und Vertrauen zu tun – und damit, dass ich so gut wie keine Unverträglichkeiten berücksichtigen muss. Das erleichtert mein Leben ungemein!
So auch heute. Gut gelaunt treffen Gitti und ich uns mit ein paar lieben Menschen zum Essen in einem urigen Restaurant. Es entsteht eine der schönsten Formen der Geselligkeit. Gemeinsam sitzen wir an einem großen Tisch. Wir starten mit ein paar Kleinigkeiten, von denen jeder nimmt, so viel er mag. Jeder einzelne von uns sucht sich danach auf der Karte eine leckere Speise aus, die wir dann ebenfalls gemeinsam mit den anderen genießen wollen. Auf diese Weise schenken wir uns gegenseitig die Geschmacksbausteine unseres üppigen Mahls.
Beim Studium der vielversprechenden Speisekarte fällt der neugierige Blick auf einen kleinen Abschnitt am unteren Ende der Karte. Diesem Gericht ist auf der rechten Seite kein Preis zugeordnet. Seine Bestandteile tragen die Nummern 1 bis 14, aufsteigend sortiert. Bis auf Nummer 4 klingt alles toll. Ja, das wollen wir bestimmt! Für das, was jetzt passiert, braucht es kaum Worte. Wir blicken alle auf, dann einander zu, und jeder von uns tut das bald mit einem seiner Finger auf dem spannenden Gericht. Einer spricht es aus: „Und dann nehmen wir noch das hier, aber ohne die 4, okay?“ Allen steht jetzt ein Lächeln ins Gesicht geschrieben, und alle nicken.
Die freundliche Kellnerin kommt und nimmt unsere Bestellung auf. Flugs verliere ich den Überblick über all das, was wir uns gewünscht haben. Ausgiebig widme ich mich meiner Vorfreude. Alsbald kehrt die Kellnerin zurück und stellt den ganzen Tisch voll. Es passen so gerade eben noch Wein und Wasser dazwischen. Geschäftig reichen wir Tellerchen und Tiegelchen hin und her, garnieren unser Essen mit viel „hmmm“ und „lecker“, prosten einander zu, loben die gelungene Auswahl der anderen und unterhalten uns angeregt. So geht das stundenlang, wie schön!
Ach ja: Ob jemand von uns wirklich das Gericht mit den Nummern bestellt hat? Keine Ahnung! Die Nummer 6 war auf jeden Fall Sellerie, daran kann ich mich noch erinnern. Ja, Sellerie war definitiv dabei. Aber die 4, das waren doch Schwefeldioxyde! Nein, an Schwefeldioxyde kann ich mich gerade wirklich nicht mehr erinnern …