Welch ein schönes Wetter! Die Temperaturen sind für die Jahreszeit schon wieder zu hoch, aber heute will ich mich nicht mit möglichen Ursachen und Konsequenzen beschäftigen. In diesem Moment interessiert mich nur die Wärme, die meine Seele umspült. Gerade zu Beginn der Draußen-Vorsaison lechze ich immer besonders nach diesem Gefühl, das schon wenige, direkt auf mich treffende Sonnenstrahlen in mir auszulösen vermögen. Nach vernachlässigbar kurzer Reise durch unser Zuhause landen Gitti und ich im nahe gelegenen Ferienort Balkonien. Dort liegen wir jetzt auf Relax-Mobiliar und entspannen uns.
Nach kurzer Zeit beginnt Gitti, mit der Zeitung zu rascheln. Ein laues Lüftchen hilft ihr dabei. Ich schnappe mir ein Rätselheft und versinke in einem Sudoku. In meinem Hirn geht es bald nur noch um die Zahlen eins bis neun, die in die richtigen Felder einzutragen sind. Ein paar der Zahlen stehen vorab schon da, ihre Anordnung bestimmt den Schwierigkeitsgrad der eigentlich einfachen Aufgabe. Am Ende müssen in jeder Zeile, jeder Spalte und jedem Bereich, der mit etwas dickeren Linien eingerahmt ist, Zahlen stehen, und zwar von jeder der neun verschiedenen genau eine. Die Magie dieses einfachen Prinzips entfaltet ihre Wirkung. Hoch konzentriert und zugleich restlos entspannt versinke ich in meiner Aufgabe und schreibe Zahlen in die Kästchen.
Die Frage, ob es hierbei eigentlich um Zahlen oder Ziffern geht, lässt mich in solchen Momenten völlig kalt. Allerdings treibt es mich eine Stunde später leider zur Toilette. Und dort fällt mir ein: Ziffern sind Zahlzeichen. Quasi automatisch ordnen wir alle diesen Zeichen Werte zu. Kommen die Zahlzeichen als Gruppe daher, wie etwa 333, dann assoziiere ich schnell neben dem Wert dreihundertdreiunddreißig den Spruch: „Drei, drei, drei, bei Issos Keilerei.“ Ob ich mich im Anschluss damit beschäftige, welche Werte bei dieser Keilerei damals verletzt wurden oder ob ich als nächstes einen Gegenstand assoziiere, der 333,- € kostet, hängt von ganz vielen verschiedenen Faktoren ab. Just in diesem Moment wirken die Faktoren wieder in mir zusammen, und ich weiß nicht so genau, wohin mich die Gedanken-Reise diesmal führt. Wie so oft …
Die berühmtesten Ziffern sind die 0 und die 1. Nullen und Einsen lassen sich im dualen Zahlensystem elegant mit wenigen Stellen zu riesig großen Werten kombinieren. Davon profitiere ich ständig, ohne es zu merken. Mein Computer kann in Wahrheit ohne diese Dinger rein gar nichts. Dieser Text, den Du gerade liest, erscheint nur auf dem Display oder dem Papier, weil er zuvor automatisch in Nullen und Einsen übersetzt und für die Anzeige oder den Druck dann wieder in die Schriftzeichen übersetzt wurde, die Du vor Dir siehst. Andere Menschen denken bei 0 und 1 sofort an Symbole für Gott und die restliche Welt.
Es geht also um Symbole. Ein Sudoku funktioniert übrigens nicht nur mit Zahlzeichen, sondern auch mit anderen Symbolen. Ich beginne, über Symbole aller Art nachzudenken und schließe meinen Toilettengang mit den üblichen, plötzlich jedoch irgendwie rituell anmutenden Handlungen ab. Mit frisch gewaschenen Händen und einer Reihe weiterer Gedanken komme ich wieder in Balkonien an, lasse mich nieder und verkünde: „Symbole dienen den Reimen der Welt!“
Gitti raschelt überrascht – und für mich überraschend laut – mit der Zeitung. Sie guckt mich erwartungsvoll an. In ihren Augen steht: „Ach, wie verstehe ich denn das jetzt wieder? Wo kommst Du überhaupt jetzt her? Gerade saßt Du doch noch leise hier herum und hast in das Heft gekritzelt. Erkläre Dich!“
Soll ich sie raten lassen, was mir und meinen Gedanken in den letzten Minuten widerfuhr? Besser nicht, Gitti mag das nicht. Dennoch frage ich: „Was machst Du, wenn Du auf dem Schlauch stehst?“ Statt einer Antwort hält Gitti einfach nur meinen Blick. Ich male ihr aus, dass ja manchmal weit und breit niemand in Sicht ist, den man fragen könnte. Trocken wirft Gitti zurück: „Oder der, der die Antwort weiß, hat Lust auf Spielchen. Geht es bitte konkreter?“ „Na gut. Also ich habe über Ziffern und Symbole und Interpretationen nachgedacht.“ „Und über Reime und die Welt?“, gibt sie mit hochgezogener Augenbraue zurück. „Genau!“
Im folgenden Gespräch schärfen wir gemeinsam unseren Blick auf den Umgang mit Problemen aller Art und auf Strategien, mit denen wir üblicherweise nach Lösungen suchen. Welches Beispiel wir auch beleuchten, hoch im Kurs steht: Selbst nachdenken, ausprobieren, zur Not scheitern, aber auf keinen Fall verzagen!
Wenn ich einen Grill zusammenbauen will und mit einer Auswahl an Werkzeugen vor einem Haufen kleiner und großer Teile sitze, gucke ich zuerst, ob es eine Anleitung gibt. Gibt es keine, muss ich raten, wie das Ding am Ende genau aussehen soll. Stück für Stück zerlege ich das Problem, bis die Lösung mich förmlich anguckt und ich mir die Reihenfolge der Montageschritte zusammenreimen kann. Andere Leute packen erstmal zu und fangen mit dem Zusammenbau an, bevor ihr Tatendrang durch Stolpersteine und mögliche Irrwege, die sie sonst bereits zu Beginn vor ihrem geistigen Auge sehen könnten, ausgebremst wird. Mit etwas Glück sieht der Grill bei ihnen am Ende genauso aus, wie bei mir. Wer schneller zum Ziel kommt, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Montagezeit hängt wesentlich davon ab, ob die Konstruktion gut ist.
Mir wird klar, dass ich mir ganz oft etwas zusammenreimen muss. Vor allem, wenn es nicht um handwerkliche Dinge geht. Bei zwischenmenschlichen Problemen steht in der Regel bereits am Anfang schon eine fette Interpretation. Und auf der baut sich dann alles andere auf. Ein leidenschaftlich vorgetragenes: „Du hast gesagt, dass …“ entlarvt manchmal, was verstanden wurde. Der Graben zwischen gesagt und gemeint ist mitunter ganz schon breit und tief. Mir entfleucht ein tiefer Seufzer.
Wenn eine Frau ihrem Mann vorschlägt: „Komm, wir gehen ins Bett!“, was hat sie dann gemeint? Will sie Sex? Ist sie müde? Erwartet sie, dass auf dem Weg ins Bett noch aufgeräumt, mit dem Hund vor die Tür gegangen und Wäsche in den Wäschekorb gelegt wird? Der Vorschlag wird für ihren Mann zur Stolperfalle. Er muss die fünf Worte interpretieren. Dringend! Schnell! Und vor allem richtig!! Sonst ist er dem Beziehungstod gefährlich nahe.
Es kommt darauf an, wie sie etwas sagt, wann sie es sagt, kurz: wie die Umstände sind. Zum Glück gibt es Symbole. Ihr Mann bekommt dann wertvolle zusätzliche Hinweise. Und wenn sie schon im Negligé vor ihm steht und ihn offensichtlich anflirtet, dann bezieht er das Stück Stoff vielleicht als Symbol für ihre Absicht in seine Überlegung mit ein.
Wenn es gut läuft, landen sie ohne Umwege und bester Laune im gemeinsamen Bett. Und vielleicht reimen sie später zusammen noch ein paar Verse. Als Paarreim, Kreuzreim oder Schüttelreim … Wir wollen nicht länger stören.
Herrlich – wieder einmal ganz Miri. Vielen Dank und leibe Grüße an Euch von uns!