Ich gucke in den Himmel und denke an: Nichts. Gar nichts. Ich bin nur da und gucke.
Das Abendrot und die schleierartigen Wolken am Himmel verändern sich langsam aber kontinuierlich. Ich gucke. Mehr nicht.
Nach einer Weile sehe ich ein paar Konturen. Dann plötzlich hebt sich eine Gestalt vom Rest des Himmels ab, sie eilt schnellen Schrittes nach rechts.
„Hey, wohin des Weges?“ rufe ich der Gestalt innerlich zu. Sie antwortet: „Zu spät, zu spät, ich habe doch keine Zeit!“ „Wo willst Du denn so schnell hin?“, frage ich nach. „In die Zukunft! Ich muss mich beeilen!“
Neben und hinter der Gestalt formieren sich weitere Elemente, das Bild bleibt in Bewegung. Ganz oben, hinten in der Mitte ist plötzlich ein weißer Kopf mit großen, runden Augen. Er sieht meiner eiligen Gestalt hinterher und lacht freundlich. Aus seinem Mund bläst er einen Arm, der einen Blumenstrauß hält. „Hey, nimm doch wenigstens die schönen Blumen entgegen!“, rufe ich. Meine Gestalt hält inne. Einen Moment lang bewegt sich nichts. Dann wird der Blumenstrauß größer, türmt sich regelrecht auf und verfliegt anschließend.
Urplötzlich steht Gitti neben mir. „Was machst Du da?“, will sie von mir wissen. Ich zeige hinauf in den Himmel. „Guck mal, die eilige Gestalt da!“ „Wo?“ Jetzt stelle ich mich hinter Gitti, recke meinen Arm direkt neben ihrem Gesicht gen Himmel, so dass sie mit den Augen leicht meinem ausgestreckten Zeigefinger folgen kann. „Da. Siehst Du es?“ Ich beschreibe die Szene, die ich gerade gesehen habe. Gitti nimmt den Faden auf: „Ja, und sieh mal, da links, da fliegt ein Hund mit einer langen Schnauze herein, fast wie Fuchur!“ „Du meinst den Drachen aus der Unendlichen Geschichte?“ „Ja.“
„Die Gestalt hat gesagt, sie hätte keine Zeit. Sie will ganz schnell in die Zukunft.“, erzähle ich Gitti. Die guckt mich erst mal fragend an, aber sie kennt das ja schon – also, wenn meine Gedanken sich auf Reisen begeben. „Was meinst Du,“ fragt sie mich „was verspricht sich die Gestalt von der Zukunft? Warum will sie so schnell da hin?“
„Sie will was Neues erleben. Vielleicht träumt sie ja von tollen Begegnungen, spannenden Leuten. Vielleicht winken Glück oder Reichtum oder ein toller Job.“ Gitti fragt: „Oder eine Villa?“ „Ja, vielleicht.“ „Oder lieber Gesundheit?“ Ich schenke ihr mein wärmstes Lachen: „Ja, das ist das höchste Gut. Aber guck doch mal, wie behände die läuft, die ist bestimmt einigermaßen gesund. Wobei, das kann man ja oft nicht von außen sehen. Und deshalb: Gesundheit ist auf jeden Fall ganz vorn auf ihrer Wunschliste!“ Gitti zögert kurz, dann sieht sie mich verschmitzt an und fragt: „Was wünschst Du Dir denn?“ Den Trick kenne ich schon. „Klar, mal schnell ausfragen jetzt, gell? Und selbst?“ „Alles ist möglich. Denk mal drüber nach.“ Gitti hält sich selbst auch lieber bedeckt.
Meine Gedanken entwickeln sich allerdings gerade in eine andere Richtung. „Wieso hängen wir eigentlich dauernd in der Zukunft rum? Das Leben ist doch bunt und schön! Jetzt doch auch!“ „Na ja,“ wendet Gitti ein „da ist schon noch Luft nach oben. Und ich will auch endlich mal wieder so richtig vor die Tür.“ Da hat sie allerdings Recht. Ich versuche es mit einem beherzten: „Weißt Du noch, wie wir immer gelästert haben, dass manche Leute ihre Kultur scheinbar nur im Beutel mit sich führen?“ An Gittis verzweifeltem Blick sehe ich: Das war jetzt suboptimal. Die Kultur ist das, was ihr am meisten fehlt. Theater, Kabarett, Tanz, Museen, Restaurants – aber das wird bestimmt bald wieder möglich sein. Was immer „bald“ ist. Wir hoffen inständig, dass derweil nicht alles den Bach runtergeht!
Ich kehre zu dem Gedanken mit der Sehnsucht nach der Zukunft zurück und sage zu Gitti: „Wo stehe ich?“ „Na vor mir, was soll das jetzt? Worauf willst Du hinaus?“ Ich wedle mit beiden Armen hinter meinem Körper hin und her. „Da hinter mir, da ist die Vergangenheit. Da gucke ich immer mal wieder gerne rein, wenn es um schöne Erinnerungen geht. Oder um Rechtfertigungen. Aber die spielen jetzt mal keine Rolle.“ Gitti grinst listig: „Und hier, wo ich stehe, da ist vorne, da ist die Zukunft.“
„Genau. Aber die Gegenwart ist so kurz, dass alles, was ich davon mitbekomme schon gleich wieder vergangen ist. Mathematisch betrachtet ist sie eigentlich nur eine Linie, nur die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ganz ohne Ausdehnung.“ „Ja und was willst Du mir damit sagen? Werde konkret!“ „Ich soll immer im ‚Hier und Jetzt‘ leben, oder?“ „Ja!“ „Aber das geht doch nicht! Das findet doch nie statt!“ Bekräftigend wedle ich jetzt mit dem einen Arm hinter und mit dem anderen vor mir her. Gitti weicht ein wenig zurück, ihr sind die ausladenden Gesten gerade etwas zu viel.
„Die Gegenwart ist die Zeit, in der alle Ereignisse stattfinden“, stellt Gitti fest. „Aber wie geht das, wenn dafür doch keine Zeit ist?!?“ Mir dämmert, warum sich die Wolkengestalt nicht auf Blumen oder Gespräche mit mir einlassen wollte, aber ich finde das immer noch ausgesprochen schade. Gitti sagt: „Die Hirnforscher nehmen an, dass Du die Gegenwart in Einheiten von etwa 2,7 Sekunden verarbeitest. So lange brauchst Du auch ungefähr, um Reim und Rhythmus zu erkennen.“ Jetzt bin ich platt. Gitti legt nach: „Könntest Du bitte Deine nächsten 2.7 Sekunden dazu nutzen, aus meinem Zukunftswunsch nach einem Glas Wein eine Vergangenheit zu machen, in der Du mir einen eingeschenkt hast?“
Ohne Worte…. 🤔berührend 💖💖
Danke…..
Nicht im hier und jetzt sein, das kenn ich auch nur zu gut