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Blick nach nebenan

Es ist Mitte Januar und kalt, überall liegt Schnee. Der Blick zur Straße hinaus offenbart: Unser Nachbar von schräg gegenüber baut heute seine Weihnachtsbeleuchtung wieder ab. Da wird sich Gitti aber freuen! Endlich blinkert es ab sofort nachts nicht mehr ununterbrochen. Jedenfalls für die nächsten zehn Monate. Gitti sieht das Blinken im Schlaf durch die geschlossenen Augen! Rollläden helfen nicht. Gitti weiß es, also sieht sie es auch.

Der Nachbar hat sich in seinen dicken Anorak vergraben, die mit Kunstfell gefütterte Kapuze hängt ihm tief ins Gesicht. Ein dicker Schal quillt vorne aus dem Reißverschluss heraus. Den Nachbarn umgibt der dichte Nebel seines eigenen Atems. In den vor Kälte zitternden bloßen Händen hält der gute Mann ein Lichterkettenknäuel.

Da wird mir schon vom Zugucken kalt! Der ganze Kerl ruckelt heftig vor sich hin. Genaueres Hinsehen verrät mir, dass er weniger friert als kämpft. Da hat er wohl alles, was zur Lichterkette gehört, flugs eingesammelt, und jetzt passt das Knäuel nicht mehr in die Packung. Schütteln hilft nicht. Alles hat sich gegen ihn verschworen und gründlich verhakt. Sein Hund steht fröhlich und erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelnd vor ihm. Das macht es scheinbar auch nicht besser. Der noch sichtbare Teil des Nachbarn Gesichts nimmt eine gefährlich dunkelrote Färbung an. Flüche dringen durch den ausgeatmeten Nebel. Der Hund verzieht sich lieber wieder nach drinnen, braucht aber jemandem, der ihm die Tür öffnet. Ah, er wird erhört. Jetzt sind der Nachbar und das Lichterkettenknäuel wieder alleine. Da möchte ich auch nicht weiter stören und wende mich ab.

Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter früher aus dem fachgerechten Aufwickeln von Lichterketten zwar keine Raketenwissenschaft gemacht hatte, aber doch sehr systematisch und effektiv vorging. Meine Mutter dachte lieber zuerst gründlich nach, um danach dann weniger handeln zu müssen. Sie sah übrigens auch nicht ein, wozu es gut sein sollte, jedes Jahr neues Lametta für den Weihnachtsbaum zu beschaffen. Wir Kinder warfen es gerne einfach mal so in den Baum. Das durften wir auch. Meine Mutter jedoch bügelte das Lametta nach dem Abschmücken des Baumes und legte es sogleich sorgfältig zusammen. In einem Weihnachtsschmuck-Karton fanden ordentlich um Pappe gelegte Lamettastreifen neben perfekt aufgewickelten Lichterketten, in Seidenpapier eingeschlagenen Kugeln, der in einem eigenen Kästchen zusätzlich geschützten Tannenbaumspitze und sonstigem Gedöns ihren Platz, wo sie ihr tristes Dasein bis zur nächsten Saison im Dunklen fristeten.

Auf meine Mutter geht auch dieser Spruch zurück: „Ich bin nicht ordentlich, ich bin nur zu faul zum Aufräumen!“ Je älter ich werde, desto mehr schlägt diese merkwürdige Eigenschaft auch bei mir durch. Früher wirkte mein Schreibtisch für fremde Augen stets chaotisch. Aber ich kannte mich perfekt in diesem vermeintlichen Chaos aus. Ich wusste immer, in welchem der Stapel und sogar millimetergenau auf welcher Höhe sich das gerade benötigte Blatt befand. Inzwischen versuche ich immer häufiger, die Dinge sofort wieder an ihren Platz zu räumen. Das passiert einfach so und manchmal gehe ich mir damit selbst auf den Keks. Tapfer arbeite ich jedoch gegen diese kleine, pedantisch daherkommende Ader an. Nur damit es bei uns bloß nicht steril wirkt. Gitti hilft mir dabei.

Wenn man etwas unbedingt will, dann geht es auch. Klar, nicht immer, aber doch ermutigend oft. Aber Vorsicht! Bedenke, was Du Dir wünschst – es könnte in Erfüllung gehen!

Gitti zum Beispiel hat sich ihren Freundinnen gegenüber einmal darüber ausgelassen, dass sie sich ganz arg sehr eine kackbraune Decke mit goldenen Troddeln wünscht. Und Monate später, an ihrem Geburtstag, ist der Wunsch dann in Erfüllung gegangen. Welch ein hässliches Ding! Aber Gitti ist wetterfest und hat Geschirr und Essen beim nächsten Treffen mit größtmöglicher Selbstverständlichkeit auf dem mit der Troddeldecke belegten Esstisch präsentiert.

Hier war es nur Spaß, aber häufig wünschen sich die Menschen ja tatsächlich sehnlichst und sehr ernsthaft eine sehr spezielle Veränderung. Sie formulieren klare Forderungen. Je drängender ihr Problem ist, desto mehr steigern sie sich in die vermeintliche Lösung hinein. Ihr Blick ist dann nur noch auf diese eine Lösung fokussiert. Es gibt keinen Blick mehr nach nebenan oder über den Tellerrand oder darauf, was an der gewünschten Lösung doch nicht so toll sein könnte. Offenheit anderen Ansätzen gegenüber ist auch nicht mehr zu erwarten. Jetzt zählt nur noch, ob sie genau das bekommen, was sie fordern. Unverzüglich!  Zur Not sind sie sprichwörtlich bereit, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.

Wer von uns hat nicht schon einmal versucht, jemandem zu helfen, der gerade mit aller Macht mit dem Kopf durch die Wand will? Das ist eine Herausforderung – für alle Beteiligten!

Gestern Abend hat unsere Freundin Gianna uns eine wunderbare Möglichkeit verraten, wie man diese Herausforderung meistern kann. Bei nächster Gelegenheit möchte ich das unbedingt auch einmal versuchen. Gianna formuliert einfach folgende Bitte: „Wenn Du jetzt unbedingt mit dem Kopf durch die Wand willst, dann überlege Dir bitte einmal gründlich, was Du eigentlich wirklich da in dem anderen Zimmer willst!“

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