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Sehen und staunen

Mitten in der verschlafen wirkenden Altstadt von Schwäbisch Hall gibt es eine wunderbare Kunsthalle. Schon oft habe ich mich mit Gitti zusammen auf den Weg gemacht, um die stets liebevoll zusammengestellten Kunstwerke zu bestaunen. Hier herrscht eine unglaublich ruhige Atmosphäre. Sie springt auf uns über und bietet uns den Raum, in dem wir uns mit Muße auf die gezeigten Werke einlassen können.

Die aktuelle Ausstellung lädt zu Seherlebnissen ein. Schon der Titel hat mich sofort elektrisiert: Die dritte Dimension im Bild.

Schon als Kind war ich ganz fasziniert davon, wie plastisch zweidimensionale Gemälde wirken können. Ganz dunkel erinnere ich mich an einen Besuch im Rembrandt-Haus in Amsterdam, zu dem mich meine Eltern einmal mitgenommen hatten. In meiner Erinnerung gab es dort ein schmales Treppenhaus mit einer dunklen, knarzenden, hölzernen Treppe. An den Wänden entlang dieser Treppe hingen Portraits von Menschen in edlen Roben. Die Treppe befand sich innen an einer der Außenwände des Hauses, und sie wand sich zwei Mal. Zu- und Abgang der Treppe wiesen ins Haus hinein, der Rest verlief entlang der Hauswand.

Beim ersten Erklimmen der Treppe fühlte ich mich irgendwie beobachtet. Später, als wir wieder herunterstiegen, habe ich die Personen auf den Bildern dann dabei ertappt, wie sie mir abermals hinterherschauten. Ich hätte schwören können, dass sie dabei ihre Köpfe drehten!

Mein Vater freute sich darüber, dass es mir aufgefallen war. Ich durfte noch ein paar Mal hinauf- und wieder heruntersteigen. Alle Personen guckten aus ihren Bildern heraus und drehten stets ihre Köpfe, sobald ich an ihnen vorbeilief. Meine Eltern haben mir dabei geholfen, herauszufinden, woran es lag: Der Maler hat diese Leute so gemalt, dass sie ihm und damit auch jedem anderen Betrachter in die Augen schauen. Weil so ein Bild zweidimensional ist, gucken sie also immer in meine Augen, völlig unabhängig davon, wo genau ich stehe. Na ja, und wenn ich dabei auf der Treppe quasi um die Ecke laufe, was bleibt ihnen dann übrig, wie sie da so in ihrem Bild sitzen? Natürlich halten sie meinen Blick – oder ich den ihren?

Heute in der Kunsthalle begegnen mir unter anderem Bilder von Victor Vasarely wieder. Auch hier dockt eine Erinnerung an meinen Vater an, der sich nach dem Besuch einer Ausstellung Aquarellfarben und Leinwände besorgte, um zu sehen, ob er ähnlich verblüffende Dinge schaffen kann, wie Vasarely. Was ihn damals so faszinierte, waren perspektivisch gemalte Würfel. In seiner Freizeit widmete sich mein Vater fortan eine Weile lang diesem Thema. Aus Holzlatten baute er sich bald eine kleine Staffelei. Schließlich malte mein Vater selbst ein Würfelbild und hängte es anschließend in unserer Küche auf.

Seine Würfel standen in Reihen aufeinander, alle mit der einen Kante nach schräg nach vorne und wie aus der Vogelperspektive gemalt. Bei längerer Betrachtung kippte das Bild plötzlich. Ab da sah es so aus, als ob man die Reihen von unten sähe. Nach einer Weile kippte es wieder, jetzt konnte ich die Würfel wieder von oben sehen, aber die vordere Kante zeigte plötzlich zur anderen Seite. Stundenlang habe ich damals gerätselt, was eigentlich nun vorne oder hinten, was oben und was unten sein mochte.

Das große Vasarely-Bild, vor dem Gitti und ich gerade verweilen, besteht vornehmlich aus farbigen, scheinbar quadratischen Flächen. Dunkles Blau und leuchtendes Rot geben den Ton an. Plötzlich assoziieren wir schmale und ganz dicht nebeneinanderstehende Wolkenkratzer. Sie erheben sich von unten links nach oben rechts, darüber sind wir uns einig. Als ich eine der Farbflächen eine Weile lang anstarre, bewegt sich das Bild plötzlich. Zu meiner Verblüffung sehe ich danach immer noch Wolkenkratzer, allerdings aus einer völlig anderen Perspektive heraus. Sie zeigen in eine komplett andere Richtung. Ich zeige Gitti, welche Fläche ich mit den Augen fixiert habe. Sie starrt das Ding eine Weile lang an, und dann kippt auch bei ihr die Perspektive. Das ist aufregend und wegen der angenehmen Farben und der harmonischen Gestaltung zugleich ungeheuer beruhigend. Das Bild berührt uns tief in unserem Inneren.

Wir können nie sicher sein, wie die Dinge wirklich sind. Die dritte Dimension entspringt immer unserer Betrachtungsweise und wird stark durch die Art, in der wir etwas ansehen, bestimmt. Alles, was ich sehe, interpretiere ich. Das geht gar nicht anders. Ich bin fest davon überzeugt, dass es fast immer auch andere Perspektiven gibt. Daraus ergeben sich automatisch auch andere Schlüsse. Und das gilt nicht nur in Bezug auf Bilder!

Vermutlich liegt hier der Schlüssel zur Toleranz. Wenn mir bewusst ist, dass ich nur eine von zwei oder gar von vielen Möglichkeiten sehe, dann kann ich bestimmt auch leichter zugestehen, dass andere Leute die Dinge anders sehen als ich und deshalb auch ihre eigenen Schlüsse ziehen. Meine Sicht auf die Dinge ist nicht automatisch die einzig mögliche und richtige Sicht. Vielleicht schult das Angucken solcher Bilder tatsächlich auch den Blick auf alltägliche Sachverhalte und hinterlässt sogar Spuren in der eigenen Persönlichkeit. Diese Gedanken treiben mich ordentlich um – tagelang …

Was mich noch umtreibt, ist das Prinzip, das hinter der Veränderung der Perspektive beim Betrachten dieser faszinierenden Bilder steckt. Wie funktioniert das? Nach zwei Tagen entschließe ich mich zu einem kleinen Experiment. Allerdings zieht es mich nicht in die Stadt, um Farben und Leinwand zu kaufen. Seit mein Vater das damals tat, sind schon einige Jahrzehnte vergangen. Die Welt hat sich inzwischen verändert. Ich suche gezielt mein Arbeitszimmer auf, starte den Rechner und greife zu der einfachsten Möglichkeit, die mir einfällt: Powerpoint.

Schnell werfe ich ein paar dunkelblaue Würfel mit hellblauen Kanten auf die virtuelle Folie. Dann richte ich sie aneinander aus, ordne sie und baue daraus eine kleine Wand mit einer Ecke. Ein paar der Würfel nehme ich wieder heraus und verschiebe sie an eine andere Stelle. Das Gebilde ist plastisch und für mich beruhigend eindeutig. Einen der Würfel färbe ich jetzt rot ein. Dann drehe ich ihn um 180°. Ich gucke gespannt auf den Bildschirm.

Als die Perspektive nach wenigen Sekunden tatsächlich umklappt ist mir zu meiner eigenen Überraschung selbst nicht mehr klar, ob der rote Würfel von oben oder von unten zu sehen ist oder ob die roten Flächen nur zu den anderen Würfeln gehören und da gar kein roter Würfel ist. Verblüfft starre ich das Bild an.

Vor lauter Aufregung mache ich mit dem Smartphone einen Screenshot und sende ihn Gitti zu. Das wäre auch eleganter gegangen, aber ich bin so perplex, dass mir spontan keine andere Möglichkeit einfällt, wie ich das Bild mit ihr teilen kann. Ich lasse Gitti etwas Zeit, dann laufe ich zu ihr und erkundige mich danach, ob auch sie sieht, was ich sehe – und dann sind wir beide verblüfft und schauen immer wieder staunend auf mein kleines Experiment.

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