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Es ist ein Omen

Eines Morgens, es ist fast halb zehn Uhr in meiner Zeitzone. Mein Freund Tom schickt mir ein Foto. Darauf erkenne ich zuerst Bodenfliesen in einem undefinierbaren Farbton zwischen gesprenkeltem Grau und Beige. Die Fugen sind in einem dunklen, geradezu tristen Anthrazit gehalten. Der obere Teil des Bildes zeigt die Teilansicht eines niedrigen, in sterilem Weiß gehaltenen Tisches mit integrierter Regalfunktion. In diesem Regalteil des Tisches, also unter der Tischplatte, liegt Lesematerial. Tom stellt dazu folgende Frage: „Sagt es eigentlich etwas über die zu erwartende Wartezeit aus, wenn im Wartezimmer neben den üblichen Illustrierten auch Taschenbücher liegen?“

Ich betrachte das Foto genauer. Die Zeitschriften passen thematisch gut zu einer Arztpraxis und bei den beiden dicken Taschenbüchern handelt es sich offensichtlich um Krimis. Der Bücher Zustand zeugt davon, dass sie bereits durch viele Hände gegangen und bestenfalls mehrfach vollständig durchgelesen worden sind.

Was macht mein Freund eigentlich um diese Zeit beim Arzt? Gibt es einen aktuell akuten Anlass oder sitzt er dort wegen eines Regeltermins zur Inspektion oder Wartung seines Körpers? Dezent übergehe ich meine indiskrete Frage. Stattdessen konzentriere ich mich auf seine Frage und sende als Antwort ein nachdenklich fragend guckendes Smiley, ein verlegen lächelndes Smiley mit roten Bäckchen und ein hoffentlich aussagekräftiges „Ui“.

Am nächsten Morgen erkundige ich mich danach, ob er noch liest oder schon dran war.

Eine Stunde später meldet Tom zurück, dass er schon dran war und sogar die Bücher dort gelassen hat. Ich muss kichern. Mein Freund Tom kann Bücher meist nur schweren Herzens ungelesen zurücklassen. Vermutlich war seine gestrige Wartezeit zu kurz bemessen, um beide Krimis lesen zu können. Weil er nichts darüber schreibt, seine Lektüre beim nächsten Termin fortsetzen zu wollen, ziehe ich den kühnen Schluss, dass für ihn in dieser Praxis kein zeitnaher Folgetermin ansteht. Ich werte das als ein gutes Zeichen.

Dann bestellt Tom bei mir eine Schmunzelstory und liefert mir dazu ein paar Ideen. Seinen Wunsch und seine Ideen greife ich natürlich gerne auf.

In Gedanken schleiche ich mich vor ihm in das Wartezimmer, in dem er gleich verweilen muss. Auf einem der harten, ungemütlichen Stühle nehme ich Platz. Tom betritt das Zimmer und sieht sich um. Natürlich kann er mich nicht sehen, denn das würde sein komplettes Gefühl verändern. Er nähme ja dann nicht mehr mutterseelenallein seine Warteposition ein, sondern könnte ein fröhliches Pläuschchen mit mir halten. Dennoch verstecke ich mich hinter einer der langweiligen Zeitschriften, die hier ausliegen. Sicher ist sicher! Freunde spüren, ob Du da bist!!

Tom zählt kurz durch, wie viele Personen schon Platz genommen haben. Das kann dauern! Er seufzt, legt seine Jacke ab und sucht sich einen Stuhl aus, von dem aus er die Tür sehen kann.

Nun sitzt er hier, wartet und übt sich in Geduld. Seine Rolle als Patient gefällt ihm gar nicht. Das Wort „Patient“ entstand vor langer Zeit aus einem lateinischen Begriff, der für „leidend“ und „duldend“ steht. Der klassische Patient leidet an etwas und muss deshalb ärztliche Handlungen an sich dulden, um aus der Nummer wieder herauskommen zu können. Wenn Tom nicht gerade eine fette Männergrippe auskurieren muss, sind ihm leidende und duldende Gefühle eher fremd. Konfrontiert mit einer Männergrippe begibt Tom sich vorzugsweise in die Obhut seiner lieben Frau, die ich an dieser Stelle herzlich grüße.

Anstatt in diesem kalten Wartezimmer zu sitzen, würde er jetzt gerne eine „Patience“ legen. Dieses alte Kartenspiel, das man in der Regel alleine spielt, erfordert Geduld und glücklich gemischte Karten. Im englischen Sprachraum heißt es „Solitaire“. Angeblich wurde die „Patience“ von französischen Adligen aus lauter Langeweile erfunden. Tom ist sich nicht so sicher, ob ihn das wirklich ausfüllen könnte, aber es wäre immerhin besser, als hier in der passiven Rolle des Patienten zu verharren.

Die Stühle entpuppen sich zunehmend als extrem unbequem. Nicht ein einziger anderer Patient wurde binnen Toms bisheriger Wartezeit aufgerufen! Er trommelt eine Weile mit den Fingern auf seinen Oberschenkeln herum. Das macht es nicht besser. Tom wird unruhig. Er schlägt eines seiner Beine elegant über das andere. Wegen der engen Platzverhältnisse muss er infolgedessen allerdings seine Füße unnatürlich verdrehen. Für die Platzverhältnisse zeichnet der in der Mitte des kleinen Warteraumes stehende Tisch mit der bereits erwähnten Regalfunktion verantwortlich. Dort liegt Lesematerial aus. Toms Rücken droht nach kurzer Zeit damit, ihn in eine andere Arztpraxis zu zwingen, in der man sich dann um seine neu erworbenen Rückenbeschwerden kümmern kann – natürlich nach angemessener Wartezeit.

Da kommt ihm ein Gedanke: Er ist ja bereits unruhig geworden und könnte es über die gesamte, noch nicht überblickbare Wartezeit hinweg bleiben. Wenn er sich weiterhin fragt, wann er endlich dran ist, wird es in seiner Wahrnehmung ewig dauern. Tom möchte natürlich gut bedient und versorgt werden. Die Person, auf deren Service er heute wartet, ist ein Arzt. Morgen könnte es sich vielleicht um einen Handwerker handeln. Tom wünscht sich inständig, dass der Arzt sich gleich genauso viel Zeit für ihn und seine Behandlung nimmt, wie nötig. Dann fällt ihm ein, dass das Gleiche natürlich auch für jeden anderen gilt. Er erkennt den Zusammenhang zur eigenen Wartezeit. Jetzt fällt es Tom schon leichter, das blöde Warten zu erdulden, aber seine eigene Passivität empfindet er als zunehmend hinderlich.

Unsichtbar sitze ich auf einem der anderen unbequemen Stühle in diesem Wartezimmer und bin gespannt, was als nächstes passiert.

Tom inspiziert jetzt eingehender das Leseangebot. Die ausliegenden Zeitschriften vermögen es nicht, ihn in ihren Bann zu ziehen. Die Entdeckung der beiden Krimis lastet jedoch plötzlich schwer auf seinem Gemüt. Wenn die Wartezeit in dieser Praxis tatsächlich mit dem Leseangebot korreliert, dann hat er ausreichend Zeit, wenigstens einen der beiden Krimis noch schnell durchzulesen. Geschätzte dreihundert Seiten sind für Tom ein Klacks!

Was aber, wenn er kurz vor Leseschluss aufgerufen wird und das Buch zurücklassen muss, ohne es komplett gelesen zu haben? Würde er sich anschließend wieder hier ins Wartezimmer setzen und sein Vorhaben zu Ende bringen? Wohl kaum! Und was würde er tun, wenn ein anderer Patient sich inzwischen über eben diese Lektüre hergemacht hätte? Nicht auszudenken!!

Tom kann das Buch aber auch nicht mit in die Sprechstunde und anschließend selbstredend mit nach Hause nehmen. Sein Mut sinkt. Spätestens jetzt glaubt mein Freund fest daran, dass die beiden Taschenbücher als Omen zu interpretieren sind. Als ein ganz böses Omen!

Es gibt inzwischen durchaus Ärzte, die über ein hervorragendes Zeitmanagement verfügen. Das würde ich meinem Freund jetzt sehr gerne zurufen – nicht, um ihn unnötig zu quälen, sondern als Anregung, die auch seiner kurzfristigen Ablenkung dienen könnte. Diese Ärzte lassen ihre Patienten nicht lange warten. Sie nehmen sich zudem die erforderliche Zeit für eine gute Behandlung und geben ihren Patienten das Gefühl, bei aller Schnelligkeit doch aufmerksam zuzuhören und den Menschen hinter den Symptomen wahrzunehmen. Wenn es komplizierter wird, muss man mit ihnen einen neuen Termin vereinbaren. Dieser neue Termin ist dann aber auch zeitnah zu ergattern und ebenfalls verlässlich planbar.

Über die Güte der Behandlung sagt die Wartezeit meistens nicht allzu viel aus. Wichtig bleibt aber, dass man jemanden findet, dem man sein Vertrauen schenken kann! Dafür nimmt man auch mal längere Wartezeiten in Kauf. Dennoch lohnt es sich, nach jemandem Ausschau zu halten, der zusätzlich zu seiner Fachkompetenz ein gutes Zeitmanagement vorweisen kann.

Toms aktuelle Wartezeit entwickelt sich in seinem Gefühl inzwischen zu einem zähen Brei – besonders nach Entdeckung der vielversprechenden Krimis!

Aktiv zu werden hilft ihm bestimmt, und so zückt Tom nun sein Smartphone, macht ein hübsches Foto und sendet es, garniert mit der eingangs erwähnten Frage zu mir. Hätte ich mein Smartphone nicht vorsorglich auf lautlos gedreht, wäre ich jetzt enttarnt. Tom könnte dann deutlich sehen, dass auch mein Rücken sich wegen der harten Stühle in diesem Wartezimmer jetzt zu Wort meldet. Meine Frage lautet an dieser Stelle: „Ist es ein schlechtes Omen, wenn die Stühle im Wartezimmer des einen Arztes der Akquise des anderen Arztes dienen?“

Mir bleibt zum Schluss noch die Beantwortung der Frage meines Freundes: Ja, die Taschenbücher stellen bestimmt ein Omen dar – aber ich habe keine Ahnung, ob es ein gutes oder ein schlechtes Omen ist! Die Lektüre der Bücher ist vielleicht viel erbaulicher als die der Zeitschriften. Lies also genüsslich darin, schere Dich nicht um die Zeit, merke Dir deren Titel und erwerbe sie gegebenenfalls anschließend im Handel, um das letzte Kapitel nach der Sprechstunde noch zu lesen.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Thomas

    Hallo liebe Miri,

    vielen Dank für die Schmunzelstory. Es war übrigens ein Kontrolltermin beim Hautarzt und die sind ja nicht so häufig. Danke für die lieben Grüße an meine Frau und auf diesem Weg viele Grüße zurück an Euch.

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