Von überall her schallt es an mein Ohr: „Bist Du gedingst?“ Die Formulierung hat nichts mit einer ausgeprägten Wortfindungsstörung zu tun, sie spiegelt vielmehr, womit sich gerade alle beschäftigen müssen. Gedingst heißt in diesen Tagen nämlich geimpft, getestet, genesen, vielleicht noch gewaschen. Also nicht mit allen Wassern, sondern nur aus Hygienegründen. Und so fühle ich mich spontan gestresst, gegängelt und sonstwie gedingst. Mir wäre es lieber, wenn es gesund, gemütlich, gemocht, geliebt oder geduldig hieße! Oder etwas anderes mit „ge“ am Anfang.
Letztes Jahr haben wir uns darüber beschwert, dass wir jedem dahergelaufenen Wirt unseren Namen, unsere Adresse und unsere Telefonnummer geben sollten, damit der diese Daten aufbewahren und gegebenenfalls auch noch weitergeben kann, wenn wir schon lange wieder das Weite gesucht und vielleicht sogar gefunden haben. Gut, dahergelaufen waren eigentlich wir, denn wir sind ja selbst zur gastlichen Stätte des Wirtes gelaufen. Und wir waren auch die, die unterm Strich davon profitieren wollten. Also: Wir haben uns daran gewöhnt, und seither sind uns die eigenen Daten auch nicht mehr ganz so heilig. An anderen Orten auf der Welt geht es schließlich schlimmer zu. Gibt man nicht gerne etwas preis, wenn man zum Dank Hunger, Durst oder Geselligkeitsbedürfnisse stillen darf? Die Lage ist besonderes, und selbstverständlich gelten deshalb für alle vorübergehend andere Regeln, eben zum Wohle der Gemeinschaft.
Nur: Wie viel darf es denn sein? Ist das wirklich in Ordnung, wenn wir überall explizit Zeugnis über unseren Gesundheitsstatus und unsere Gesundheitshistorie ablegen müssen? Wenn wir den Zustand „Gedingst“ genau erfassen und belegen müssen, auf dem Papier, elektronisch und wie ein Zugticket jederzeit vorzeigbar mitführen? „Zum Wohl“ möchte auch ich gerne wieder in fröhlicher Runde rufen! Möglichst bald!! Und es sieht gut aus, denn die Lage bessert sich merklich. Täglich stalke ich die Zahlen und den Trend. Und ich hoffe inständig darauf, dass diese Fragen bald nicht mehr relevant sind und der soziale Sprengstoff damit einfach seine Sprengkraft verliert, sich mit einem kleinen und leisen „Puff“ verabschiedet.
Und so lange muss eben jeder für sich entscheiden, was er macht. Die einen setzen auf Geduld, die anderen machen sich schon auf den Weg und nehmen ihre Gedingstpapiere mit. Dabei sind alle auf gegenseitige Toleranz angewiesen, so schwer es auch manchmal fällt.
So. Genug davon! Denn: Mein Zahlenstalking ergibt gerade eben, dass heute tatsächlich der Tag ist, an dem wir ohne Gedingstpapiere wieder in den Außenbereich unserer liebsten Gastrostätte einkehren können! „Da will ich hin!!!“, rufe ich vor lauter Glück. Sofort läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die schöne Terrasse unseres Lieblingsrestaurants, darauf stehen einladend gedeckte Tische und die glücklich winkende Wirtin nebst glücklich winkendem Wirt. Die Szene ist kitschig und wunderschön, alle kleinen Härchen richten sich zu einer Ganzkörpergänsehaut auf und recken sich so dem ersehnten Genuss entgegen.
Gitti und ich werden vielleicht eine Jacke brauchen, die Wetterapp verspricht für den frühen Abend so um die 20°C. Noch ist es stark bewölkt, aber ich bilde mir ein, dass die Wolkendecke minütlich dünner wird. Das kleine Symbol für die Gewitterwarnung überdecke ich lieber gleich mit dem Finger. Ich sehe Dich nicht, also siehst Du mich auch nicht!
All meine Willenskraft richtet sich auf das Wegschieben der Wolken. In drei Stunden werden sie öffnen, bis dahin muss es gelingen. Ich starre in den Himmel. Da, das erste kleine Wolkenloch habe ich schon in die Luft gestarrt! Alles in mir ist auf den bevorstehenden kulinarischen Akt ausgerichtet. Was werden sie wohl heute auf der Tageskarte haben? Ich starre und hoffe und träume …
Die Wolken verziehen sich, langsam, aber stetig. Nach zweieinhalb Stunden scheint tatsächlich die Sonne, und mir tun die Augen weh, so intensiv habe ich in den Himmel gestarrt. Gitti und ich laufen ungeduldig zu Hause rum und dann schon mal los, den kleinen Hügel hinauf und dem Genuss entgegen.
Das Restaurant ist geschlossen. Mist! Doch Hoffnung keimt auf, als wir die Öffnungszeiten nochmal sorgfältig nachlesen. Wir setzen uns auf die Terrasse und baden im gleißenden Sonnenlicht. Gitti findet es jetzt sogar eine Spur zu heiß. Aber wir halten beide durch, und dann öffnet sich die Tür und hinaus zu uns kommt die glücklich winkende Wirtin. Ja, wir dürfen bleiben!
Zuerst wollen wir ein frisches Bier vom Fass. Zum Zischen. Endlich mal wieder frisch gezapft und aus einem ordentlichen Glas! Dann bringt die Wirtin die Karte und dort entdecken wir „Filetti di branzino con crosta di patate e tartufo fresco“. Lecker! Filets vom Wolfsbarsch, versteckt unter einer dünnen Kartoffelhaube, dekoriert mit ganz vielen frischen Trüffelscheiben aus der Toscana, frisches Gemüse, dazu ein leckeres Glas Weißwein. Ja, und danach noch ein Tiramisù. Gitti und ich baden jetzt nicht nur in der Sonne, sondern auch im Kulinarischen. Es sind die pure Befreiung, der pure Genuss, die pure Lebensfreude, in die wir eintauchen, als gäbe es kein Morgen!
Als wir satt und glücklich die Rechnung verlangen, wird es auch seitens des Wetters Zeit für den Heimweg. Innerhalb weniger Minuten zieht sich der Himmel zu, dunkle Wolken türmen sich auf und entladen sich in einem ordentlichen Gewitter, als wir vor gerade zwei Minuten wieder nach Hause gekommen sind. Immer noch völlig entzückt ob des tollen Erlebnisses sinken wir zufrieden auf dem Sofa in die Kissen und grinsen dümmlich vor uns hin – ach, wie schön!!!
Wunderschön deine Geschichte liebe Miri, danke dafür.
Sie beinhaltet so viel Freude und Glückseligkeit an den einfachen Dingen, die unser Leben wirklich ausmachen, und die Dankbarkeit dafür. 🙏🏻🙏🏻