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Form und Funktion

Gitti und ich folgen der Einladung zu einer schönen Feier. Es gibt einen klar definierten Starttermin, und so finden sich alle Gäste nahezu gleichzeitig ein. Im Rahmen der allgemeinen Begrüßungsrituale fällt mir auf, dass ein paar der anwesenden Frauen viel größer sind, als sie es neulich noch waren. Bin ich geschrumpft? Ich stelle mich möglichst aufrecht neben Gitti und lasse meinen Blick prüfend von oben nach unten wandern. Zu vergleichen sind unser beider Landmarken. Befinden wir uns einigermaßen auf Augenhöhe? Wie steht es mit unseren Schulterhöhen, der Position unserer Ellbogen und der Hüfthöhe? Wo ist Gittis rechtes Knie im Vergleich zu meinem linken? Das Ergebnis: Gitti ist immer noch genauso groß wie sonst auch. All unsere Körperteile sind in Relation zueinander da, wo sie hingehören. Sind wir etwa gemeinsam geschrumpft?

Zugegeben, die Frage nach der Augenhöhe ist mehrdeutig. Vielleicht versuche ich später am Tag einmal, ob ich Gitti wenigstens ein ganz reales Glas Wasser reichen kann. Ich schmunzle und wende mich wieder der Frage zu, wieso diese Frauen heute alle so groß sind.

Die Antwort auf diese Frage folgt buchstäblich auf den Fuß – beziehungsweise auf deren Füße. Die stecken nämlich in Schuhen mit beeindruckend hohen Absätzen. Ich bilde mir ein, sehr konzentrierte Blicke zu erhaschen. Vielleicht liegt darin sogar die leise Spur einer heldinnenhaft ertragenen Qual.

„Deine Schuhe sind echt schön! Für mich wären das eher Sitzschuhe“, sage ich und schlage dabei einen leisen, nachdenklichen und zugleich mitfühlenden Ton an. Die tapfere Trägerin der High Heels lächelt dankbar und bestätigt den Verdacht. In solchen Schuhen kann man eigentlich nur bequem sitzen.

Meine letzten Sitzschuhe habe ich vor geraumer Zeit rausgeworfen. Ich mache da nicht mehr mit. Sag niemals nie, wer weiß, ob mir das Tragen von Sitzschuhen nicht doch noch einmal in den Sinn kommt. So unwahrscheinlich es mir jetzt auch vorkommt, so gut weiß ich auch, dass man sich auf Sitzschuhe einlässt, wenn es einen richtig guten Grund dafür gibt.

Die Form dieser Schuhe folgt konsequent deren Funktion. Wer schon einmal einen Sitzschuh trug, weiß genau, dass sich ein Dauerlauf darin verbietet. Dieser Schuh hat eine ganz andere Funktion. Es geht nicht nur um die optische Verlängerung der Beine. Der Sitzschuh verleiht der Person, die ihn stolz und geübt zu tragen und auf ihm sogar eine Weile zu stehen und zu gehen weiß, eine aufrechte Haltung und eine atemberaubende Ausstrahlung.

Das geht aber nicht automatisch. Manchmal sieht man einen Menschen, wie er, noch ungeübt oder nur mal so zum Spaß, einen kleinen Gehversuch mit High Heels unternimmt. Ein kräftiges Rudern mit den Armen dient dann dem Ziel, weder zu stürzen noch sich infolgedessen die Knochen zu brechen. Das ganze Gesicht rötet sich alsbald. Es spiegelt den Schmerz wider, der von den geschundenen Füßen bis ganz hinauf zu den vor Panik geweiteten Augen ausstrahlt. Die Muskelstränge am Hals schwellen beachtlich an. Höhenangst treibt zusätzlich dicke Schweißperlen auf die Stirn. Von Eleganz und Würde keine Spur!

Ich finde, wir sollten die High Heels feierlich in die Kategorie der Funktionskleidung aufnehmen. Einfach aus Respekt vor den Menschen, die sie tragen. Ich assoziiere mit Funktionskleidung vor allem sportlich daherkommende Kleidung, die vorwiegend zum Gebrauch außer Haus gedacht ist. Nicht einfach nur Outdoor, sondern allgemein außerhalb des eigenen Zuhauses. Sie weisen Eigenschaften auf, die auf ihre bestimmungsgemäße Verwendung hervorragend abgestimmt sind, sie funktionieren also prima. Genau da passen die Sitzschuhe doch super rein! Sie zu tragen, kommt sportlicher Betätigung durchaus gleich. Niemand läuft damit zu Hause länger rum als nötig. Es sei denn, die spezielle Funktion der Sitzschuhe ist genau in diesem Moment genau an diesem Ort gefragt! Hui, damit wird es jetzt aber auch höchste Zeit, mich diskret zurückzuziehen und nicht länger zu stören …

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