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Streng letal

Es ist Sonntag. Ich liege noch gemütlich im Bett und gewöhne meine soeben etwa halb geöffneten Augen an das vielversprechende Sonnenlicht, das sich seinen Weg durchs Fenster ins Zimmer bahnt. Mein Tag ist also noch jung und unschuldig. In die idyllische Stille hinein fragt Gitti überraschend: „Willst Du wissen, warum Du auf Kreuzfahrten lieber keine Salami essen solltest?“

Meine Stimme ist noch nicht geölt, also krächze ich tapfer ein verwundertes: „Hä bitte?“

Gitti erkundigt sich umgehend, ob mein bestimmt noch ungestillter Wissensdurst die Verarbeitung der neuen Erkenntnisse schon ermöglicht, die sie soeben gewonnen hat. In welcher Lotterie gab es die denn? Gitti nennt ihre Quelle, und dann liest sie mir einen Artikel vor.

Zum Auftakt rückt der Artikel die Salami in verschiedenen Darreichungsformen verlockend vor unser inneres Auge. Schon beim dritten Satz dreht sich der Tenor des Textes. Ein riesiger, mahnend erhobener Zeigefinger bohrt sich ab sofort aus der Tiefe heraus nach oben und durchzieht den gesamten noch folgenden Text! Der Zeigefinger verdeckt alle Bilder, die gerade noch salamitrunken meinen Speichelfluss anregten. Und mit jedem Absatz wird es schlimmer.

Die Argumentationskette läuft in etwa so: Die Dauer der Kreuzfahrt führt dazu, dass die Salami auf See länger gelagert werden muss als auf dem Festland. Mit zunehmender Lagerzeit steigt das Risiko, dass die Salami Bekanntschaft mit Bakterien und Pilzen macht. Erschwerend kommt hinzu, dass man auf dem Schiff vielleicht einen eingeschränkten Zugang zu frischem Wasser hat. Schnell leidet die Hygiene insgesamt. Unter den Passagieren breiten sich schlimme Krankheiten aus. Schon allein, weil die Passagiere einander während der Fahrt auf engem Raum ständig begegnen, wird die Katastrophe unaufhaltsam ihren Lauf nehmen. Der Artikel listet gleich darauf noch viele andere Lebensmittel auf, die man besser gleich meiden sollte.

Mich hat schon das erste Argument aus der Kette nicht wirklich überzeugt. Salami nannte man früher aus gutem Grund gerne Dauerwurst. Zum Glück muss ich auf diese Diskussion nicht einsteigen. Auch Gittis Kopf umschwirren große Fragezeichen. Deutlich kann ich mir vorstellen, auf welche Menge der noch vertretbare Inhalt unseres Kühlschrankes auf dem Prüfstand dieses Artikels zusammenschrumpfen würde. Immerhin wohnen Gitti und ich keineswegs auf einem Kreuzfahrtschiff, aber diese Ausrede würde der Autor des Artikels sicher nicht gelten lassen.

Zur Abwehr postuliere ich schnell: Hygiene ist wichtig, und Kirchen sollte man besser im Dorf lassen!

Später genießen Gitti und ich einträchtig unser Frühstück. Wie immer haben wir den Tisch liebevoll gedeckt. Es ist wichtig, sich selbst die Wertschätzung zukommen zu lassen, die ein schön gedeckter Tisch jedem schenkt, der an ihm Platz nehmen darf. Neben der reinen Nahrungsaufnahme kann man sich auf diese Weise ganz leicht etwas Gutes tun.

Mich beschäftigt immer noch der Artikel, den Gitti vorhin vorlas. Dabei geht es mir nicht um die darin vorgetragenen Thesen. Mich treibt eher um, wieso es mich überhaupt umtreibt. Vermutlich bin ich nur auf den erhobenen Zeigefinger angesprungen, der mir da vor die Nase gehalten wurde. Ich bin alt genug, um selbst über meine Lebensweise zu richten. Manche Anregung nehme ich ja durchaus bereitwillig an. Es lohnt sich immer, sich selbst und das eigene Verhalten einmal in Frage zu stellen. Daneben verspüre ich jedoch das Aufkommen großer Empörung. Es geht um die Art und Weise, in der des Artikels Botschaften transportiert wurden. Schnell gewinne ich den Eindruck, dass es dem Autor in Wahrheit weder um Hygiene noch um hilfreiche Gesundheitstipps geht, sondern darum, alles mies machen zu können. Es ist ein Rundumschlag. Anprangern ist der einzige Zweck, und es scheint egal zu sein, wen es dabei trifft.

Leise schleicht sich bei mir noch ein anderer Gedanke ein. Was ist, wenn ich gerade nur in Opposition gehe, weil ich keine Lust habe, mir den Appetit verderben zu lassen? Keile ich in meinem Text hier nicht ebenfalls aus? Sind meine Unterstellungen, was des Autors Absichten angeht, nicht genauso daneben?

Ich belege mein nächstes Brot genüsslich mit einer Scheibe Salami. Mit Messer und Gabel schneide ich einen Bissen ab und stecke ihn in den Mund. Dann beiße ich herzhaft zu. Ich schließe für einen Moment die Augen und spüre dem herrlichen Geschmack nach, der sich in meiner Mundhöhle ausbreitet. Beruhigt öffne ich die Augen wieder.

Unser Leben hat sowieso schon einen streng letalen Verlauf. Mit anderen Worten: Eines Tages werden wir alle sterben – aber an allen anderen Tagen nicht!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Peter

    genau: wie Epikur schon vor Sigmund Freud die Lustlehre sinngemäß beschrieb „ Mit Heiterkeit den Weg zum glücklichen Leben“. Ataraxie, Besonnenheit, Gelassenheit fallen mir dabei ein. Danke für die immer wieder heiteren Darstellungen und Blickweisen deiner Stories. LG

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