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Smart City

„Mist, wenn die Leute mir immer durchs Hologramm rennen, sehe ich gar nichts!”, beschwert sich Gitti. Sie hat ihr Display vor sich in die Luft projiziert, etwa in der Größe eines Plakats, wie wir es aus früheren Zeiten von Litfaßsäulen kennen, und jetzt versucht sie gerade, uns ein Flugtaxi zu buchen.

Ich sehe hinauf in den blauen Himmel, erinnere mich an Asterix und frage Gitti: „War eigentlich Teutates dafür zuständig, die Gallier davor zu bewahren, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt? Oder wie war das nochmal?“ Gitti fuchtelt gerade mit ihrer rechten Hand in dem Hologramm herum. Jetzt friert ihre Bewegung ein, sie wendet mir den Kopf zu, die senkrechte Falte auf ihrer Stirn signalisiert, dass sie die Störung ihrer Konzentration gerade nicht wirklich gutheißt. „Was?!?“

Ich begebe mich auf den inneren Rückzug, dennoch frage ich: „Willst Du nicht lieber ein bodennahes Fahrzeug für uns buchen?“ „Gerade wolltest Du doch noch fliegen!“, empört sie sich. „Ja, aber Du fliegst ja eigentlich nicht so gerne, oder?“ „Und warum sagst Du mir das erst jetzt?“ Mit einer schnellen schnipsenden Bewegung lässt sie das Hologramm in sich zusammenfallen, einen kurzen Moment lang liegen die Schnipsel des Hologramms auf einem virtuellen Haufen vor ihr in der Luft, dann wischt sie mit der Außenfläche ihrer Hand schnell von links nach rechts einmal über den Haufen und das virtuelle Bild löst sich auf.

Für unseren Transport nach Hause gibt es unterschiedliche Optionen. Gemeinschaftsfahrten in Bussen und Bahnen sind aus der Mode gekommen. Neben den Flugtaxen gibt es kleine autonom gesteuerte Kabinenfahrzeuge. Ansonsten gibt es noch die Nachfolger von Segway und E-Scooter, nämlich kleine Schalen, auf denen man einfach durch die Gegend schweben kann. Die Schweberichtung folgt einfach der Gewichtsverlagerung. Damit die Dinger nicht überall herumliegen, so wie früher die E-Scooter, kann man sich solch eine Schale einfach umschnallen. Sie trägt nicht auf, und man kann damit überall quasi in der Luft sitzen. Wer eine braucht, bucht sie kurz online, und im Handumdrehen schwebt sie herbei. Wird sie nicht mehr benötigt, schwebt sie zum nächsten Gast oder eben zur nächstgelegenen Schalenstation.

Neulich saß ich mit so einer Schale mitten in der Einkaufsstraße in der Luft und wartete auf Gitti, die irgendwo im Gewühl verschwunden war. Aus Langeweile versuchte ich, zu hopsen, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren. Ich winkelte also die Arme an, kauerte mich ein bisschen zusammen, nahm innerlich Schwung und streckte mich dann so ruckartig, wie ich nur konnte nach oben. Zeitverzögert folgten meine Knie der Aufwärtsbewegung, während der Oberkörper schon wieder nach unten geplumpst war. Nach einer Weile hatte ich den Bogen aber dann doch raus und hopste tatsächlich ein bisschen im Kreis herum. Dann nahm ich die Blicke der Leute wahr, ein junger Kerl hatte schon damit begonnen, mich zu filmen. Peinlich berührt stellte ich die Füße auf den Boden und versuchte, in demselben zu versinken.

Ich löse mich von der Erinnerung und gucke, was Gitti zwischenzeitlich erreicht hat. Ein neues Hologramm vor Augen, fragt sie: „Willst Du eine mit oder ohne Armlehnen?“ „Früher hat man sich einfach ein Taxi bestellt.“, nörgle ich rum. „Ja, und dann hättest Du im Regen stehend darauf warten müssen, dass es sich durch die verstopften Straßen schlängelt und Dich aufnimmt.“ „Aber die Sonne scheint doch!“, wende ich ein. Gitti ignoriert mein Argument. „Willst Du jetzt doch das Ding mit der Kabine?“ „Ja, da können wir uns besser unterhalten.“ Gitti seufzt, bucht, schnipst das Hologramm wieder auf einen Haufen zusammen und schiebt es mit der Hand aus der Luft. Ich hänge derweil noch meinem Retro-Gefühl nach: „Manchmal gab es Gespräche mit dem Taxifahrer. Heute gibt es da keinen Fahrer mehr.“ Gitti ist genervt: „Und wer durfte sich dann immer mit dem Fahrer unterhalten? Na? Ich! Stimmt‘s?“ Es stimmt.

Die bestellte Kabine schwebt wie von Geisterhand herbei und weiß dann auch schon, wohin die Reise gehen soll. Wir steigen ein. Die künstliche Intelligenz, auf die die Steuerung zugreift, sorgt dafür, dass es keine verstopften Straßen mehr gibt. Ein Teil des Verkehrsproblems ist zudem mit den Flugtaxen in den Luftraum verschoben worden. Aber richtig schön ist das auch nicht, dieses ganze Gesurre über und um uns herum.  

Unterwegs schwalle ich Gitti mit Fortschrittsgedanken zu: „Unsere Stadt ist echt zur Smart City geworden. Die Stadtentwicklung zielt darauf ab, sie immer effizienter, technologischer, grüner, inklusiver, irgendwie fortschrittlicher zu machen. Mit den Attributen ‚grüner‘ und ‚inklusiver‘ sollten dazu eigentlich auch Lösungen für die größer werdenden sozialen Herausforderungen und die knapper werdenden Ressourcen gehören.“ Gitti meint dazu: „Na, da bin ich ja mal gespannt. Was glaubst Du? Wie ernsthaft wirst Du Dich um diese Aspekte kümmern?“

Zuversicht hilft hoffentlich mehr als Skepsis, also beschließe ich, zuversichtlich zu sein. Welchen konkreten Beitrag werde ich wohl selbst leisten? Ups.

Ich dränge mein schlechtes Gewissen zur Seite und denke ein wenig vor mich hin. Als die künstliche Intelligenz Einzug in unsere Visionen gehalten hat, ging es mit der Smart City eigentlich schon los. Zuerst halt nur im Traum. Inzwischen hantieren alle mit Clouds, wir treiben die allgemeine Vernetzung voran, können extrem große Datenmengen extrem schnell verarbeiten und uns daran quasi in Echtzeit berauschen. Menschen sind heute Teil der technischen Infrastruktur. Nachhaltigkeit ist zwar noch ein Thema, aber solange wir Spaß haben, nutzen wir gerne alle möglichen Annehmlichkeiten.

Ich gucke eine Weile aus dem Kabinenfenster. Hinter einer Kurve fällt Gitti ein: „Fortschritt assoziieren wir oft nur noch mit Technik, oder?“ Synchron schallt aus unser beider Münder ein lautes „Schade!“ Gitti aktiviert das nächste Hologramm und wir vertreiben uns die Fahrzeit mit einer kleinen Recherche über Elektroautos.

„Schau mal!“, sagt sie. „Von Thomas Alva Edison gibt es ein Bild aus dem Jahr 1895, darauf sieht man ihn mit seinem ersten elektrisch betriebenen Automobil.“ „War Kaiser Wilhelm II nicht ziemlich Technik-affin?“, frage ich. „Ja, der hat nicht nur aufs Pferd gesetzt. Hier: 1907 ließ er drei E-Autos aus seinem Fuhrpark auf der Berliner Automobilausstellung präsentieren. Ach guck, und die Hannoversche Waggonfabrik hat 1921 einen elektrisch betriebenen Stadtlieferwagen gebaut, den Hawa EM3. Sieh mal, die Reichweite: 70 bis 100 km, wow!“ Wir finden noch mehr: In New York war der Anteil an Elektroautos vor rund 100 Jahren auf 38% angewachsen. Und dann gab es noch einen Charles Alexander Escoffery, der besaß ein Elektroauto vom Baujahr 1912, und das hat er dann 1960 zum Solarauto umgebaut, mit einer Solarzellentafel auf dem Dach!

Die Themen, die den Verbrennungsmotor nach vorne brachten, waren übrigens dieselben, mit denen wir heute kämpfen, wenn wir wieder E-Autos wollen: Reichweite, Ladeinfrastruktur, Preis.

Als wir zu Hause ankommen, gleiten die Türen unserer Kabine auf. Eine freundliche Stimme schlägt uns vor, jetzt auszusteigen und bedankt sich dafür, dass wir mitgefahren sind. Mir kommt es ein wenig wie ein Rausschmiss vor, aber eigentlich nur, weil wir gerade noch so schön in unsere Recherche vertieft sind. Schnips und wisch – Gitti schließt das Hologramm… und ich schrecke aus meinem Tagtraum hoch.

Kein Kabinenfahrzeug, keine Sitzschale, kein Hologrammhaufen. Ich sitze ganz analog zu Hause auf dem Sofa und gucke irritiert zu Gitti herüber. Das muss ich alles so vor mich hingeträumt haben. Schade eigentlich! Also grinse ich Gitti an, schnipse mit dem Finger und wische mit der Hand einen imaginären Hologrammhaufen weg. Gitti grinst zurück, legt den Kopf schief und wartet. Ja, ich weiß schon: Das muss ich ihr jetzt irgendwie erklären.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    Wow…. Zukunftsvisionen 🤩, da hast du ja eine technische Studie für unser geistiges Auge gezaubert.
    Vielleicht lachen wir heute darüber,
    aber ganz abwegig ist das nicht………
    Es ist technisch alles möglich!
    Träume von heute, eröffnen die
    Möglichkeiten für morgen!
    Danke für diesen Ausflug in das
    Abenteuer Zukunft 🙏🏻😀

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