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Finde einen Weg

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Oder doch? Wie lautet der Spruch eigentlich richtig? Mit oder ohne „nicht“?

Ich frage schnell mal das Internet und erhalte dort innerhalb von nur 29 ms mehr Antworten, als mir lieb sind, nämlich ungefähr 542.000. Das behauptet zumindest die Seite, auf der die ersten Treffer angezeigt werden. Da überrascht es nicht, dass die Antworten einander zum Teil widersprechen. Ich beginne, zu stöbern. Schnell geht es gar nicht mehr darum, ob das kleine verneinende Wort nun Bestandteil der Redewendung ist, oder eben nicht. Ich gerate versehentlich in einen heftigen, online ausgetragenen Streit über den Ursprung des Satzes. Bereits der erste Treffer verweist mich sowohl auf die scholastische Philosophie, einen lateinischen Satz als auch auf einen französischen Schriftsteller, der wiederum vor langer Zeit einen auf Spanisch formulierten Satz gleichen Inhalts übersetzt haben soll. Immerhin verwenden dabei alle die Verneinung, nach der ich ursprünglich fahndete.

Ich klicke mich tiefer ins Thema hinein. Nach kurzer Zeit traue ich mich nicht mehr, den Satz als Redewendung oder Spruch zu klassifizieren. Kann ich ihn wenigstens ungestraft eine Aussage nennen? Sicher nicht! Er hat eine, so viel ist klar. Was die Bedeutung des Satzes angeht, lasse ich mich nicht so leicht in die Irre führen!

Das Tosen, mit dem der Sturm der Antworten über mich und meine kleinen Überlegungen hinwegzieht, ist plötzlich so deutlich spürbar, dass ich ganz real für einen kleinen Moment meinen Kopf einziehe. Bald darauf aber richte ich mich stolz wieder auf und setze mein Stöbern fort.

Eine der vielen Überschriften aus der Trefferliste stellt mir die Frage, welcher Genuss-Typ ich beim Abnehmen bin. Welches Abnehmen? Lasst mich bloß in Ruhe!

Per Mausklick stolpere ich in den nächsten Streit hinein. Bei dem geht es um die Güte des Geschmacks. Zwischen gut und schlecht entscheidet ja jede und jeder von uns stets in atemberaubender Geschwindigkeit und mit aller Selbstherrlichkeit, die sich nur aufbringen lässt. Einen sehr sicheren Geschmack bescheinige auch ich gerne höchst ironisch jedem, dem etwas gefällt, was ich selbst ganz furchtbar finde. Meistens behalte ich das für mich. Manchmal tausche ich mich darüber natürlich mit Gitti oder anderen Menschen aus, aber stets in privatem Rahmen und niemals öffentlich! Mir selbst bin ich es schuldig, dabei den Respekt vor dem nur wegen seines Geschmacks Gescholtenen nicht zu verlieren – und das wünsche ich mir von anderen Menschen auch.

Gruselig finde ich, dass es offenbar eine Reihe Menschen gibt, die behaupten, es gäbe nur einen Geschmack, nämlich den ihren, und wer den nicht hat, der hat eben keinen Geschmack. Gar keinen! Die Aussagen dieser Leute kommen mir weder treffend noch respektvoll vor. Sie werden leider mit großer Vehemenz und Aggressivität vorgetragen. Diese Aggressivität bringt mich selbst ein bisschen in Rage, und wenn ich einmal in Rage gerate, fällt es mir schwer, diese starke Emotion schnell wieder loszulassen. Zum Glück gehört Austicken nicht zu den Verhaltensweisen, die ich gut beherrsche. Schon allein deshalb muss ich einen anderen Weg finden.

Mein Humor bietet mir dabei eine wunderbare Hilfestellung. Den habe ich sorgfältig und gut trainiert. Fast schon reflexartig sucht mein in Rage völlig überfordertes System nach einem kleinen Scherz, nach der Komik, die doch den meisten Dingen innewohnt oder einem Slapstick-Moment. So etwas katapultiert mich dann für einen winzigen Augenblick heraus aus der misslichen Lage. Das wirkt entwaffnend. Der pure Selbstschutz! Ich kann nicht weiter wüten, wenn sich mein Humor einschaltet. Endlich gibt es wieder Platz für Kreativität und damit für den ersten Schritt auf dem Weg, der mich später wieder ins Gleichgewicht führen wird.

Gitti kommt gerade zur Tür herein. Sie wedelt mit der Brottüte, die sie soeben erstanden hat und aus der sich ein köstlicher Duft in unsere heimische Luft ergießt. Gitti erzählt, welch eine Heldentat der Einkauf dieses Brotes war. Ich bin ein bisschen abgelenkt, denn der herrliche Duft kitzelt meine Nase und lässt mich fast sabbernd von unserer nächsten Mahlzeit träumen.

Ich setze das, was ich spontan verstehe, staunend zusammen. Die Szene muss sich ungefähr so abgespielt haben: Gitti betritt unsere Lieblingsbäckerei. Hinten im Regal entdeckt sie sogleich unser aktuelles Lieblingsbrot und wartet geduldig und voller Vorfreude darauf, an die Reihe zu kommen. Endlich wird Gitti nach ihrem Wunsch gefragt. Sie bestellt mit lauter, fester Stimme ein Punkerbrot. Und sie möchte es geschnitten!

Die Gesichtszüge der Verkäuferin entgleisen zwar nicht gleich, aber sie entgegnet, dass es kein Punkerbrot gibt. Aber da hinten liegt es doch, wie kann man das nur übersehen?!? Gitti wird ungehalten, streckt beide Arme gen Himmel. Sie bildet dabei jeweils mit Zeigefinger und kleinem Finger das Zeichen, das uns von den Wacken-Fans im Zusammenhang mit Heavy Metal bekannt ist. Dann schreit sie: „Punkerbrot! Da liegt es doch!“

Die Verkäuferin kontert: „Na gut, dann ist das Rockerbrot eben heute das Punkerbrot.“ Gitti eskaliert dessen ungeachtet vollständig. Aus dem Heavy-Metal-Dings formt sie kurzerhand ein anderes Zeichen. Sowohl mit der linken als auch mit der rechten Hand. Sie streckt die restlichen Finger nach vorne und lässt Mittel- und Ringfinger nun oben auf den Daumenkuppen ruhen. Pädagoginnen und Pädagogen kennen dieses Zeichen als den Schweigefuchs. Sie trachten danach, die wenig geneigte Schülerschaft damit zur Ruhe und Aufmerksamkeit zu rufen. So steht Gitti nun da, zwei ausgestreckte Schweigefüchse funkeln bedrohlich in Richtung Verkaufstheke.

Mich beschleicht der leise Verdacht, dass ich irgendetwas nicht richtig mitbekommen habe. Solch ein Verhalten passt nicht zu Gitti. Die gute Gitti ist für solch einen Quatsch viel zu freundlich, besonnen und harmoniesüchtig. Ich frage also mal nach: „Du hast denen den Schweigefuchs gezeigt?“

Gitti guckt mich verblüfft an. Nein, das hat sie nicht. Und eskaliert ist sie auch nicht. Was ich eigentlich von ihr denke, will sie jetzt wissen.

Wir versuchen, einander auf den aktuellen Stand zu bringen. Ich gestehe, dass ich brotdufttrunken und ob meiner aktuellen Recherche nicht mehr ganz geschmackssicher vielleicht etwas unkonzentriert war. Gitti klärt mich im Gegenzug über den wahren Verlauf ihres Bäckereibesuches auf. Die Vorstellung, wie sie dort einen zwar fragwürdigen, aber doch bleibenden Eindruck hätte hinterlassen können, sorgt dafür, dass wir den restlichen Abend immer wieder vor uns hin kichern. Die Bäckerei-Fachverkäuferinnen hatten es auf jeden Fall lustig mit ihr, und wir sind schon sehr gespannt, ob sie das Brot künftig von „Rockerbrot“ in „Punkerbrot“ umbenennen werden.

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