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Welch eine Pracht

Gitti und ich erwarten Besuch von Freunden. Wir freuen uns schon sehr darauf, sie nach so langer Zeit mal wieder kulinarisch zu verwöhnen. Mit viel Liebe schnibbeln und brutzeln Gitti und ich vor uns hin. Wir zaubern ein leckeres Mahl. Gerade noch rechtzeitig gelingt es uns, den Tisch zu decken. Uns selbst für den Besuch ein wenig aufzuhübschen, fällt heute aus Zeitgründen aus. Die Freunde werden uns auch frisch vom Kochtopf gerne sehen. Zur Not müssen sie halt auf ihre Teller, tief in die Gläser oder wahlweise in unsere Augen gucken.

Es wird ein schöner, interessanter und auch lustiger Abend, den wir alle sehr genießen.

Die lieben Freunde haben ein paar Mitbringsel mitgebracht. Eines der Mitbringsel bereitet uns in den nächsten Wochen ganz besonders viel Freude. In einem kleinen Topf steckt ein bisschen Erde, und aus der Erde lugen zwei grüne Spitzen. Die Form der Spitzen lässt uns schon erahnen, was uns blüht: Eine stolze Amaryllis! Wie schön!!

Gitti hat ein gutes Gespür für Pflanzen aller Art. Sie weiß genau, wann sie mit welcher Menge an Wasser zu deren Gedeihen beitragen kann. Schnell findet Gitti einen geeigneten Platz für unsere neue Mitbewohnerin. Mein Beitrag ist da nicht so besonders groß. In den ersten Tagen passiert im Topf scheinbar nichts. Am Ende der ersten Woche schießen jedoch plötzlich dicke grüne Stängel aus der Erde. Der eine legt doppelt so schnell an Länge zu wie der andere. Beide entwickeln vielversprechende Knospen. Wir können zugucken, so schnell geht das!

Die Köpfe mit den noch geschlossenen Knospen recken sich der Sonne entgegen. Ich beginne, die Pflanze jeden Tag ein wenig zu drehen, damit sie schön gerade wächst. So sieht sie noch viel majestätischer aus.

Nach zwei Wochen öffnet sich die erste Knospe ganz vorsichtig ein winzig kleines Stück. Gitti und ich laufen immer wieder hin und gucken in den kleinen Spalt. Die Blüten werden sich demnächst satt und rot entfalten. Das ist spannender als jeder Krimi, und es geht mir ans Herz. In der dritten Woche laufe ich jeden Morgen erst einmal zur Amaryllis, um zu sehen, wie es ihr geht und wie sie gedeiht. Sie misst bereits fast 80 cm, wächst inzwischen nur noch wenig in die Höhe und steckt jetzt die meiste Kraft in die weitere Entwicklung der Knospen.

Als die Pflanze ihre dritte Woche bei uns vollendet hat, entfaltet sie entschlossen vier riesengroße, leuchtend rote Blüten aus der ersten Knospe. Gitti und ich stehen sprachlos davor. Tags darauf schon öffnet sich die zweite Knospe ein kleines Stück. Auch hier werden bald vier wunderbare Blüten in alle vier Himmelsrichtungen schauen. Ich bin zutiefst gerührt.

Gitti findet, dass die Pflanze merkt, dass es ihr hier gutgeht. Bestimmt hat sie Recht. Insgeheim denke ich, dass die Pflanzen hier einfach nur machen, was geht. Sobald Licht, Nährstoffe und Temperaturen es zulassen, wird gewachsen, geblüht und gewelkt. Und dann geht es wieder von vorne los. Aber das ist nicht romantisch, und deshalb bestehe ich nicht darauf, dass es so ist. Stattdessen strecke ich der einen großen Blüte meine geöffnete Handfläche entgegen, und es sieht so aus, als vollführten die Amaryllis und ich einen High Five. Der Blütenkelch und meine Hand sind tatsächlich gleich groß. Ich bin beeindruckt.

Wir Menschen verhalten uns ein bisschen ähnlich wie die Pflanzen. Unser Verhalten treibt manchmal auch Blüten. Nicht immer kommen Stilblüten dabei heraus, über die wir dann jahrelang lachen können. Schade eigentlich!

Gitti und ich überlegen, wieso uns diese Pflanze so sehr rührt. Die Blütenpracht wird der Höhepunkt sein, und der Anblick von Blüten erfreut uns eigentlich immer. Aber da ist noch etwas: Diese Pflanzen stellen nicht erst eine lange Liste an Bedingungen auf, unter denen sie vielleicht einmal geneigt sein könnten, etwas an ihrer Entwicklung und Reife zu arbeiten. Sie nutzen einfach jede Chance und wachsen, sobald es geht. Rückschläge nehmen sie geknickt hin. Wenn sich die Bedingungen nicht verbessern, darben sie. Wenn sie eine schwierige Phase überlebt haben, nehmen sie einfach die nächste Chance wahr. Scheinbar vorbehaltlos!

Der Ficus Benjamini, den ich vor vielen Jahren mit meinen Pflegeversuchen fast umgebracht habe, lebt immer noch. Bei mir hat er Dürrephasen, Sintfluten, lange Monologe meinerseits und Düngeversuche mit Kaffeesatz überstanden, allerdings in recht kümmerlicher Gestalt. Dann kam Gitti und nahm sich seiner Pflege an. Jetzt ist er ein stattlicher Zimmerbaum.

Ich werde mir die Pflanzen einmal zum Vorbild nehmen. Wer weiß schon, wie prächtig ich mich noch entwickeln kann, selbst auf meine ollen Tage noch. Unterwegs werde ich immer wieder staunend vor den Pflanzen oder auch staunend vor den Blüten stehen, die andere tolle Entwicklungen hervorgebracht haben. Und dann rufe ich aus voller Kehle: „Welch eine Pracht!“

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Betina

    Liebe Miriam,
    du bist für mich doch schon prachtvoll! (Für andere bestimmt auch ;-))!
    Jede Woche nimmst du uns mit in eine wunderschöne Schmunzelstory.
    Du beschreibst die Szenen so farbenfroh und lebendig.
    Viele Geschichten klingen bei mir oft noch lange nach und ich freue mich jede Woche auf die nächste Story.

    Ich möchte dir dieses Zitat auf den Weg geben:
    „Manche Menschen machen die Welt besonders, indem sie einfach da sind.“

    Mit diesen Worten wünsche ich dir eine schöne Woche.

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