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Der Ehre halber

Kennst Du das auch? Du sitzt ganz harmlos da und plötzlich ploppt ein Wort auf. Du hast keine Ahnung, woher es gerade kommt und was es eigentlich jetzt und hier ausgerechnet bei Dir will. In derselben Sekunde jedoch fragst Du Dich bereits, wieso das, was das Wort benennt, eigentlich so heißt, wie es heißt. Vergiss alles, was Du gleich machen wolltest, Du entkommst der Frage sowieso nicht!

Das Wort, das gerade bei mir aufgeploppt ist, heißt Ehrgeiz – und in meinen Ohren hört sich das heute völlig falsch an! Ehre ist schön, Geiz finde ich nicht schön. Und Ehrgeiz? Kommt ganz drauf an! Wie passt das also jetzt zusammen?

Gitti hat das Pech, soeben an mir vorbeigelaufen zu sein. Ich lasse das Wort jetzt auch bei ihr aufploppen. Spontan schlägt Gitti einen Umweg ein, der sie am Bücherregal vorbeiführt. Mit einem schlauen, bereits aufgeschlagenen Buch in der Hand steht sie wenige Momente später vor mir. Gitti bringt das erste Licht ins Dunkle.

Ethymologisch betrachtet, haben sich beim Ehrgeiz wohl die beiden althochdeutschen Begriffe, die für Ehre und Gier stehen, zusammengetan. Gier statt Geiz? Das finde ich interessant! Unsere Assoziationen fliegen flugs durchs Zimmer, unsere Gedanken und Gefühle begeben sich auf eine turbulente Reise.

Bin ich gierig auf die Ehre, die mir zu erweisen ist, wenn ich etwas Tolles mache? Geht es immer um den Wunsch nach Anerkennung? Kann ich mir diese Anerkennung auch selbst zollen oder brauche ich dafür andere Menschen? Ist Ehrgeiz eine Charaktereigenschaft? Entwickelt man Ehrgeiz oder ist er quasi angeboren? Kommt es darauf an, worauf sich mein Ehrgeiz richtet? Wann ist Ehrgeiz als gesund und ab wann eher als krankhaft einzustufen? Was machen wir, wenn wir extremem Ehrgeiz begegnen? Tausend Fragen umschwirren Gitti und mich. Bald verheddern wir uns mächtig in all den Aspekten, die uns einfallen und die wir als bedenkenswert einstufen. Aufgepasst! Bedenkenswert ist etwas anderes als bedenklich!!

Ein kräftiger Sturm tobt uns durchs Hirn. In einer kleinen Denkpause sind Gitti und ich uns einig darüber, dass Brainstorming ein recht treffender Ausdruck für das ist, was hier gerade mit uns passiert. Und dann geht es auch schon hurtig weiter.

Wir diskutieren lebhaft über all die Fragen, die uns eingefallen sind. Je nach Situation finden sowohl Gitti als auch ich Ehrgeiz richtig gut oder höchst gefährlich. Immer mehr fühle ich mich, als tanzten wir auf einem ganz schmalen Grat. Aristoteles muss es ähnlich gegangen sein. Er hat den Ehrgeiz einmal den seelischen Lustempfindungen zugeordnet. Ihm war wohl auch schon bewusst, dass man davon zu viel, aber auch zu wenig haben kann. Der Ehrgeiz lässt sich nicht eindeutig als Tugend oder Laster identifizieren.

Mein eigener Ehrgeiz kann Fluch und Segen zugleich sein. Richte ich ihn auf etwas, was ich nicht erreiche, vielleicht sogar nie erreichen kann, so muss ich mit dem Misserfolg umgehen können, den ich erleide. Vielleicht bin ich dem Erfolg nahe genug, um einen weiteren Versuch zu wagen. Mache ich also weiter, versuche ich es nochmal oder lasse ich die Finger davon? Ich muss mich entscheiden. Und ich sollte auf keinen Fall daran zerbrechen! Auch wenn mir der Erfolg und die eine Ehre mal verwehrt bleiben, bin ich doch nicht gleich ein Versager! Mit einem Misserfolg handle ich mir ganz sicher nicht immer nur Ablehnung und Spott ein. Manchmal muss ich später sogar über mich selbst schmunzeln. Dann wird aus dem Misserfolg schon fast wieder ein Erfolg.

Der Segen meines Ehrgeizes besteht einfach darin, dass er mich antreibt und mich neue Erkenntnisse erringen oder weitere Fähigkeiten entwickeln lässt. So bleibt mein Leben spannend, bunt und schön!

Wir versuchen nochmal, den Zusammenhang zwischen Ehre und Geiz zu ergründen. Vielleicht verhält es sich ja so: Reich wird man nicht, wenn man alles ausgibt oder ausgeben muss. Geiz kann dabei helfen, etwas anzuhäufen. Das muss nicht immer Geld sein, aber mit Geld ist es einfach anschaulicher. Geiz ist nicht sexy, jedenfalls nicht in den Augen der Leute um Dich herum, die Dich einen ollen Geizkragen schimpfen. Was machst Du jetzt? Du kannst der Gier nach dem Haufen nachgeben. Vielleicht wird Dir später eine gewisse Bewunderung entgegengebracht, weil der Haufen so groß geworden ist. Ging es dann die ganze Zeit um den Haufen oder um die Ehre, die mit der Bewunderung einhergeht? Du kannst Deinen Ehrgeiz aber auch darauf richten, dass andere Dich mögen, weil Du großzügig bist.

Gitti und ich haben während unserer angeregten Diskussion noch etwas ganz anderes entwickelt: Appetit. Schnell beschließen wir, ihn mit einem leckeren Stück Käsekuchen zu stillen. Gitti wünscht sich Cappuccino dazu.

Die Milchpackung ist fast leer. Ich hole eine neue aus den Tiefen unserer Vorratsschränke. Der Verschluss sieht ein bisschen anders aus als sonst. Er lässt sich nicht öffnen. Ich kann die Verschlusskappe einfach nicht drehen. Außerdem sitzt sie weiter hinten als üblich, also weiter entfernt vom stirnseitigen Packungsrand. Was ist das für ein Quatsch?!? Muss man dann in die andere Richtung gießen, um die Milch nicht zu verschütten – also sobald das verflixte Ding dann endlich offen ist? Was soll eigentlich die silberne Folie da, wo sonst die Kappe sitzt?

Mein Ehrgeiz ist geweckt. Als ich dem Ding endlich mit geeignetem Werkzeug zu Leibe rücke, dreht die Kappe sich und gibt einen vollständigeren Blick auf die immer noch geschlossene Packung frei. Ich brauche eine Weile, bis ich verarbeite, was ich da sehe. Und dann ist es mir fast peinlich.

Auf der Unterseite der Kappe befinden sich kleine Krallen. Die bohren sich beim ersten Öffnen normalerweise in die Folie, reißen ein Loch hinein und ermöglichen damit den freien Lauf der Milch durch die offene Kappe hindurch in den Kaffeebecher hinein. Was sonst!?!

Bei dieser Packung war die Kappe einfach nur etwas versetzt aufgeklebt worden. Ein kleiner Fehler in der Produktion, nehme ich an. Das hätte ich auch gleich erkennen können, ich dumme Nuss!  So führe ich jetzt kopfschüttelnd aus, was ich auch sofort hätte tun können. Mit einem Messer steche ich ein Loch in die Folie. Dann fülle ich ein wenig Milch in den Milchschäumer unseres Kaffee-Vollautomaten. Die restliche Milch gieße ich durch einen kleinen Trichter in die alte Milchpackung, die zum Glück noch leer vor mir steht.

Gitti kommt und guckt, was ich da mache. Mit vorwurfsvollem Blick zeige ich ihr die neue Milchpackung und Gitti stimmt in meine Empörung mit ein: „Was ist das denn für ein Mist?!?“ Dann guckt sie anerkennend auf das Loch, den Trichter und die alte, jetzt wieder gefüllte Packung. Das ist mir Ehre genug. Versöhnt darüber, mit den Widrigkeiten fertig geworden und sogar noch einen anerkennenden Blick geerntet zu haben, widme ich mich jetzt schwungvoll der Zubereitung von Cappuccino – und dann genüsslich mit Gitti zusammen dem leckeren Kuchen.

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