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Voll leer

Ist die Flasche leer, so ist ihr leider kein Tropfen mehr zu entlocken. Das Antonym für leer ist voll. Ein Antonym bedeutet also das Gegenteil. Und das Gegenteil des Antonyms ist das Synonym. Das Synonym ist ein anderes Wort mit gleicher oder zumindest ähnlicher Bedeutung. So weit, so sortiert, aber: die Weinflasche ist leer!

Die Gäste sind bestimmt noch durstig, deshalb hole ich jetzt eine volle Flasche des guten Weines aus dem Keller. Auf diesem kurzen Weg explodieren mal wieder meine Gedanken. Ich kann nichts dafür, ehrlich!

Es fängt damit an, dass ich mich frage, wieso mir angesichts der leeren Flasche plötzlich Antonyme und Synonyme einfallen. Was stimmt denn da nicht mit mir?

Synonyme verwende ich sehr gerne. Sie sorgen für Abwechslung. Wenn es mir jedoch wichtig ist, denn Sinn exakt zu treffen, helfen die Synonyme nicht wirklich weiter. Dann muss auf den Punkt formuliert werden. Kurz und knapp. Unmissverständlich! Sprachlich konsequent korrekt formulieren, ohne Schnörkel und Ausschmückungen zu verwenden? Klar geht das! Will ich das immer? Nein!!

Was beim Sachtext hilfreich ist, taugt in der normalen Unterhaltung einfach nicht so gut. Heute Abend erlauben unsere Gäste und wir uns genüsslich alles, was die Sprache so hergibt. Wir baden in Füllwörtern, nutzen virtuos Steigerungen aller Art und spielen mit Wörtern, die ganz unterschiedliche Assoziationen auslösen können. Auch der Pleonasmus muss ran, also das Ding mit dem weißen Schimmel. Jeder weiß, dass der Schimmel weiß ist, aber wenn ich vom weißen Schimmel rede, dann ist er eben besonders schön weiß – und ich weiß das in diesem Moment zu betonen.

Eine Kugel ist rund, das ist so definiert. Der Hinweis auf eine rundherum runde Kugel kann meine Zuhörer darauf vorbereiten, dass genau diese Eigenschaft der Kugel noch eine Rolle spielen wird. Manchmal dient solch eine Anhäufung von Wörtern ohne Informationsgewinn aber auch dem Gefühl, das entstehen soll. Eine rundherum runde Kugel, diese Formulierung sorgt entweder für Empörung oder für die Zeit, die man braucht, um sich in das Gefühl fallen zu lassen, welches die Vorstellung der perfekten Rundung der rundherum runden Kugel auszulösen vermag … besonders, wenn es dabei um eine leckere Schokoladenkugel geht.

Sabbernd erreiche ich den Weinkeller und mache mich alsbald mit der vollen Weinflasche auf den Rückweg.

Unsere Gäste und wir tauschen uns beim gemeinsamen Essen ausgiebig über unsere Erlebnisse aus, die wir seit unserem letzten Treffen hatten. Die schönen und lustigen Begebenheiten nehmen heute zum Glück einen besonders großen Raum ein. Das tut so gut!

Der kleine Ausflug in den Weinkeller hat mein aktuelles Sprachempfinden geschärft. Ich nehme mich ein wenig zurück. Staunend lausche ich dem Tischgespräch. Plötzlich beschreiben unsere Gäste und wir alles im Superlativ, der höchsten Steigerungsform. Das Wetter ist nicht nur schön, es ist am schönsten. Der Depp, der beinahe den Abend versaut hätte, ist der größte Depp, den man sich nur vorstellen kann, genaugenommen sogar der allergrößte Depp. Alles ist besonders. Alles!

Der olle Superlativ alleine reicht längst nicht mehr aus. Wir setzen vermehrt auf Wiederholungen. So kann etwas sehr, sehr besonders ausfallen oder auch mal sehr, sehr verstörend. Unsere Einwürfe garnieren wir bald steigernd mit „voll“. Voll süß, voll krass, voll lustig. Und „voll der Depp“ darf auch nicht fehlen, besonders, wenn man gerade seine eigene Unzulänglichkeit beschreibt und die anderen mitlachen lassen möchte.

Wir schwadronieren und essen genüsslich vor uns hin. Ich greife nach der Schüssel mit dem Gemüse. Es ist nicht mehr viel darin, für zwei Gefräßigkeitshappen reicht es aber noch. Ich werfe einen fragenden Blick in die Runde. Mit wem darf ich den Rest teilen?

Und dann passiert es. Das Tischgespräch wird allein durch meinen Blick jäh unterbrochen. Sechs Augen aus drei Augenpaaren heften sich zunächst auf das Gemüsehäufchen. Dann, kleinen Scheinwerfen gleich, schwenken sie synchron zu mir herüber. Alle sehen sie mir jetzt direkt in die Augen. Und im Chor rufen sie: „Mach‘s voll leer!“

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