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Schulden beim Umstand

Gitti und ich wohnen einer heißblütig geführten TV-Diskussion bei. Mittendrin ploppt die Erklärung auf: „Das ist dem Umstand geschuldet, dass …“.

Ist das jetzt eine Erklärung, eine Entschuldigung oder eine Rechtfertigung? Dem Tonfall nach dient die erklärende Aussage der Entschuldigung. Sofort verliere ich den Faden. Geht es immer und überall nur noch um Schuld und Schulden?!? Wieso fragt niemand mehr danach, wozu etwas gut ist, sein sollte oder wenigstens sein könnte?

Bald klinke mich aus der Sendung aus. Ich bin genervt, und deshalb frage ich jetzt den Duden, was er dazu sagt.

Das Verb „schulden“ ist schwach, so erfahre ich dort. Na toll! Was fange ich jetzt damit an? Gitti kennt sich mit solchen Themen aus. Sie erklärt mir, dass ein schwaches Verb beim Übergang in eine andere Zeitform keinen Vokalwechsel erfährt. Das Präteritum eines schwachen Verbs wird mit einem t oder te am Ende gebildet. Ich bemühe zuerst meine alte Eselsbrücke, die ich einst baute, um mir die Bedeutung des Wortes Präteritum endlich merken zu können. Präteritum mit großem P ist einfach nur die popelige Vergangenheit. So! Gitti lässt mich mit den Verbformen nicht einfach hängen, vielmehr liefert sie sofort das passende Beispiel: „Du sagst ‚Ich schulde Dir etwas‘, und wenn Du geliefert hast, dann sagst Du ‚ich schuldete Dir etwas‘. Beides mit u und in der Vergangenheit am Ende mit te.“

„Und wenn ich dann bei Dir in Ungnade falle?“, will ich wissen.

„Dann verwendest Du das starke Verb fallen. Hinterher sagst Du, dass Du fielst. Dabei hat sich das a in ein i verwandelt.“ Ich lerne also, dass nur ein starkes Verb die Kraft hat, seinen Vokal zu ändern, wenn die Gegenwart vorbei ist. „Echt stark“, murmele ich.

Leider komme ich aus dem Schulden-Thema nicht raus. Der angefangene Satz: „Das ist dem Umstand geschuldet, dass …“, treibt mich weiter um.

Ist der Umstand jetzt schuld oder habe ich plötzlich Schulden beim Umstand, weil der mir abnimmt, was ich nicht selbst verantworten will? Und überhaupt, woher kommt das Wort Umstand eigentlich?

Die letzte Frage ist leicht beantwortet, wenn man Mittelhochdeutsch kann. Das kann ich zwar nicht, aber dennoch weiß ich, dass ein Umstand etwas mit dem Herumstehen zu tun hat. Da stehen Leute oder Tatsachen oder andere Dinge um mein Problem herum und tragen wesentlich dazu bei, was jetzt mit meinem Problem geschieht.

Dass mein Teller heute leer bleibt, ist dem Umstand geschuldet, dass der Kühlschrank und die Schränke leer sind, während alle umliegenden Restaurants gerade Betriebsferien machen und heute zudem Sonntag ist. Ich weise also auf die widrigen Umstände hin und bin raus. Das hat alles nichts mit mir zu tun, oder? Um meinen Teller stehen halt Elektrogeräte, Möbel, Gastronomiebetriebe und Wochentage herum! Zugegeben, das Beispiel hinkt, denn unser Kühlschrank kennt den Zustand „leer“ nicht. Dafür schulde ich vor allem Gitti tausend Dank, aber nicht irgendeinem dahergelaufenen Umstand!

Mühsam sammle ich mich wieder.

Der Tatsache geschuldet, dass ich mich vordergründig sammeln kann, während meine Gedanken im Hintergrund unbeirrt weiterfliegen, stehe ich plötzlich dem Begriff „andere Umstände“ gegenüber. Der Begriff und ich sehen uns fest in die Augen. Ich denke an eine bestimmte Frau, die gerade in anderen Umständen ist und sende ihr für die bald anstehende Niederkunft meine allerbesten Wünsche!

Inzwischen telefoniert Gitti mit einer Freundin. Es geht um eine Einladung zu einem gemeinsamen Abendessen. Und schon wieder umfangen uns Umstände. Die nämlich sollen wir uns bitte auf gar keinen Fall machen!

Wird gemacht! Aber Gitti und ich müssen jetzt dringend in die Küche – umständehalber …

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Peter

    Danke für die Inspiration. Das Wort Umstand hat so viele unterschiedliche Beziehungen. Mir fallen da spontan die mildernden Umstände ein, die erschwerenden Umstände, unter keinen Umständen, unter allen Umständen, unter anderen Umständen, unter Umständen, keine Umstände, oder Englisch circumstances. LG Peter

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