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Vom laufenden Schuh

Der Blick auf die Schuhe, die sich aktuell in meinem Gebrauch befinden, weist Gitti und mir den Weg in die Stadt. Eine optische Veränderung soll her. Schuhe wirken wie eine Visitenkarte und tragen zum ersten, hoffentlich guten Eindruck bei, den man bei anderen Leuten hinterlässt. Dieser erste Eindruck ist mir nicht völlig egal. Ich brauche dringend neue, sportlich wirkende Schuhe, mit denen ich längere Spaziergänge unternehmen möchte.

Unterwegs erwähnt Gitti beiläufig, dass Jacken ebenfalls zum ersten Eindruck beitragen. Aha. Magisch zieht es Gitti in der Stadt zu einem Laden, der viele sportliche Anoraks und sonstige Jacken im Sortiment hat. Aha! Draußen ist es heiß. Drinnen ist es schwül. Gitti kennt keine Gnade. Wir schlüpfen von einer Jacke in die nächste. Mir ist heiß.

Die Verkäuferin beschwört die Dichtheit des Materials und erklärt, dass „die hier bis zwanzigtausend Wassersäule kann“. Mit zwanzigtausend Millimeter Wassersäule ist der Druck gemeint, bis zu dem das Material wasserundurchlässig bleibt. Ich winkle meinen Arm an und gucke auf den Ärmel. Dort erhebt sich plötzlich eine runde Wassersäule. In meiner Vorstellung misst ihr Durchmesser etwa eine Handspanne, wenngleich das eigentlich nichts zur Sache tut. Die Säule ist beeindruckende 20 m hoch und bohrt sich durch die Decke des Ladens. Dort tut sich eine kreisrunde Öffnung auf, durch die hindurch ich die gesamte Säule sehen kann. Und den blauen Himmel!

Mir wird der Arm schwer. Eine kleine Überschlagsrechnung ergibt: Die Wassersäule übt einen Druck von knapp 2 bar auf den Stoff und auf meinen Arm aus. Das ist deutlich weniger, als der Druck, mit dem unsere Kaffeemaschine das Wasser durch den herrlich duftenden, frisch gemahlenen Espresso drückt, den ich plötzlich förmlich riechen kann. Eine zwanzig Meter hohe Wassersäule ist schwer. Leise schwitze ich vor mich hin. Ich lasse den Blick entlang der imaginären, blau schimmernden Säule nach oben schweifen. Ein kleiner Ausfallschritt ist nötig, um das Gebilde auf dem Arm balancieren zu können. Ob es der Jacke wohl egal ist, von welcher Seite das Wasser drückt?

Gitti fragt, wie ich die Jacke finde, die sie gerade übergestreift hat. Sie ist schön, steht ihr gut und lenkt mich vom inneren Balanceakt ab, wofür ich Gitti unendlich dankbar bin. Mit dem Gefühl, schon richtig schwer gearbeitet zu haben, schließen wir alsbald zwei Kaufverträge ab und verlassen den Laden. Im Gepäck die beiden Jacken!

Völlig erschöpft sinken wir in der Nähe auf der Terrasse eines Bistros nieder und gönnen uns ein kleines Frühstück.

Frisch gestärkt erinnere ich Gitti an mein eigentliches Vorhaben, neue Schuhe erstehen zu wollen. So treten wir den nächsten Teil unserer Einkaufstour an. In verschiedenen Geschäften sichten wir das Sortiment. Es gibt unglaublich viele Sitzschuhe! Diese Art der Fußbedeckung dient ausschließlich dekorativen Zwecken. Laufen kann darin nämlich niemand gut! Sitzschuhe zieren den Fuß, setzen ihre Trägerin in ein gutes Licht und befinden sich unter den Tischen vieler Restaurants meist neben den geschundenen Füßen ihrer Trägerin. Jedenfalls so lange, wie die sich von dem schmerzhaften Weg zwischen ihrem Zuhause und dem Restaurant erholen muss. Mit Sitzschuhen kann man gut sitzen. Mehr nicht. Ich möchte andere Schuhe!!

Gitti hört sich geduldig meine Schwärmereien an. Ich möchte ein gutes Fußbett, sicheren Halt, exzellente Dämpfungseigenschaften, dazu einen sportlichen Look, den man aber auch im Büro gut tragen kann. Hineinschlüpfen und mich wohlfühlen möchte ich. Farblich wünsche ich mir etwas, was zu allen meiner Beinkleider passt. Gitti guckt schon etwas mutlos.

Endlich weckt ein hübscher Schuh mein Interesse. Gitti drängt mich, nach der passenden Größe zu fragen. Ein Verkäufer materialisiert sich neben ihr. Es folgt ein kurzes Beratungsgespräch. Seine Kollegin materialisiert sich neben mir und tut kund, dass es diesen Schuh in meiner Größe nicht mehr gibt. Garantiert nicht! Immerhin schlägt sie ein anderes Modell vor, das wir bislang übersahen. Zu zweit verschwinden sie im Lager. Es dauert. Gitti und ich sinken auf einem Höckerchen nieder. Endlich kehren Verkäuferin und Verkäufer lächelnd zurück. Zu zweit, wie süß. Mit zwei Kartons. Ich schöpfe Hoffnung und neuen Mut. Der eine Karton beherbergt ein Paar Schuhe in grellen Farben. Kreisch! Ich lehne ab, Gitti erklärt der Verkäuferin, dass sie mit solchen Farben nicht bei mir punkten kann. Der andere Karton muss das Wunder enthalten! Bitte!!

Man reicht mir zunächst den linken Schuh. Ich schlüpfe hinein und fühle mich wohl. Glücklich sage ich zu Gitti, dass ich darin bestimmt weit laufen kann. Die Verkäuferin drückt den Karton, in dem mein neuer rechter Schuh noch liegt jetzt fest an ihren großen Busen. Sie erklärt mir, dass dies ein Freizeitschuh ist. Mit dem kann man nicht laufen. Aber er ist bequem, gut gedämpft und – schön! Der Verkäufer findet, dass die Farbe ausgezeichnet zu meiner Hose passt. Aber auch er reitet jetzt darauf herum, dass der Schuh nicht zum Laufen gedacht ist. „Ich will doch nur spazieren!“, werfe ich ihnen entgegen. Busen und Karton werden fast eins. „Geradeaus, maximal zehn Kilometer!“, flehe ich. Die Verkäuferin gibt zurück: „Zehn Kilometer sind schon viel für diesen Schuh.“ Der Unbarmherzigen erkläre ich nun: „Für mich auch. Jedenfalls ohne Übernachtung.“

Ich setze mich durch und erstehe das Paar.

Zu Hause frage ich Gitti, was eigentlich passiert, wenn es dem Schuh zu viel wird. Muss ich dann alleine weiterlaufen? Ihn zurücklassen? Ihn streicheln und anschließend auf Händen tragen? Oder wollte die Verkäuferin ihn lieber selbst anziehen und es handelte sich um das letzte Paar im Lager? Auftragsabwehr? Fragen über Fragen!

Mittlerweile habe ich das schöne Paar Schuhe auf die Probe gestellt. Es hat bestanden und Dank des Fußbettes und der Dämpfung habe auch ich den langen Spaziergang gut überlebt.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Tom

    Vielleicht muss man alle 7 Kilometer die Schuhe wechseln. Ich bin sicher der Verkäufer verkauft Euch gerne noch ein paar Schuhe, so für 0-500 m am Tag, 450 – 1.500 m am Tag und so weiter. Ich bin ja bei meiner Schuhgröße schon glücklich, wenn es versehentlich ein paar Schuhe in meiner gigantischen Größe 50 im Laden gibt.

    Gerade beginnt meine eigene gedankliche Reise: Was passiert eigentlich, wenn jemand so einen Schuh mal einen Tag lang nicht trägt oder mit einem Schuf für 1.500 m nur 1.499 m? Wird der Schuh dann krank oder stirbt er?

    1. Miriam

      Weiß nicht, aber meiner lebt noch … zum Glück!

  2. Deine Fantasie ist echt bemerkenswert liebe Miri,
    vor allen die Vorstellung den Schuh streicheln zu müssen, wenn er zu viel gelaufen ist🙄😬!

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