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Geheimnis Marktpreis

Gitti kommt auf mich zu, sie jongliert zwei Schalen mit frischen Erdbeeren um die Menschen herum, die noch zwischen uns stehen und hat ein listiges Grinsen auf dem Gesicht. „Ah, Erdbeeren, lecker! Gleich zwei Schalen, das ist super!“, rufe ich ihr zu und greife begeistert nach der ersten Schale, um sie sicher im Einkaufskorb unterzubringen. „Nein!“, entgegnet Gitti entschieden, reckt den Zeigefinger der jetzt freien Hand in die Luft und fährt fort: „Das sind zweimal eine Schale!“

Mein verblüffter und zugleich fragender Gesichtsausdruck bereitet ihr große Freude. Gitti lässt mich wissen, dass zwei Schalen viel zu teuer gewesen wären, da hätte sie gar nicht erst mitgemacht. Aha. Wie geht jetzt das? Den Arm mit der einen Schale, die sie noch in Händen hält, streckt sie aus, wirbelt zum Stand herum, verlangsamt ihre Bewegung und weist auf einen sehr jungen Verkäufer, der mit roten Wangen sein Bestes gibt. Sie vollendet die 360°-Drehung und schwankt ein klein wenig im noch unsicheren Stand nach. Hoppla, das war jetzt vielleicht doch eine kleine Spur zu schnell gedreht.

Das listige Grinsen kehrt zurück, und endlich werde ich aufgeklärt. Der junge Mann hat ihr die Erdbeeren angepriesen, ihren Geschmack in höchsten Tönen gelobt und dann ganz exklusiv zwei Schalen für nur 7,40 € angeboten, und eine Schale für 3,60 €. „Da kaufe ich lieber zweimal eine Schale!“, hat Gitti ihm zugerufen, und seine Mutter, die offensichtlich hinterm Stand neben ihm stand, hat sich kichernd weggedreht. Der arme Kerl! Gitti hat gleich passend gezahlt, damit das mit dem Rückgeld gar nicht erst schief gehen kann. Unter dem Druck der kichernden Mutter verstummte der arme Tropf beim Kassieren, und jetzt wirkt es so, als ob die Finger, die er gerade in seine Hosentaschen vergraben hat, verzweifelt versuchten, das Rechenproblem durch Abzählen zu lösen. Ich ziehe Gitti lieber vom Stand weg, wer weiß, was sie da sonst noch für komplizierte Einkäufe tätigt.

Es treibt uns schräg gegenüber zu einem anderen Gemüsestand. Gitti bestellt drei rote Spitzpaprika und die Verkäuferin kontert: „Darf’s ein bisschen mehr sein?“ Was ist denn heute bloß los?!?

Ich schaue zurück zu dem Stand mit dem rotwangigen Jungen. Wie alt mag er wohl sein? Na ja, so jung ist er jetzt auch wieder nicht. Das Leben ist schon eine harte Schule.

Im Supermarkt habe ich mich schon an recht fantasievolle Preisgestaltungen gewöhnt, da unterstelle ich auch gern mal die Absicht, Kunden verschaukeln zu wollen. Der Marktpreis folgt dort einem ausgeklügelten System. Die Anbieter und wahrscheinlich schon deren Anbieter, die ja die unverbindlichen Preisempfehlungen geben, denken sich scheinbar täglich neue Möglichkeiten aus.

Seitdem die Ware so ausgezeichnet werden muss, dass man einen leicht zu vergleichenden Bezugspreis lesen kann, wird es immer doller. Na ja, lesen kann man den auch nur, wenn man jung ist, Adleraugen hat oder mit der Nase am Schild klebt. Also Auge in Auge mit dem kalten Rahmen des Regals, auf dem die Ware feilgeboten wird. Geschenkt!

Da fällt mir ein, neulich habe in einem Supermarkt an den Einkaufswagen fest eingebaute Lupen entdeckt. Schon ein wenig blind, also im Sinne von verkratzt, dennoch funktionstüchtig. Man konnte damit zwar nicht die Schilder lesen, die an die Regale gesteckt waren, aber für ein gemütliches Studium der Liste mit Ingredienzien hätte es noch gereicht. Ich will meistens lieber gar nicht so genau wissen, was da alles drin ist. Aber natürlich habe ich ein wenig damit gespielt, also, bis Gitti gefragt hat, wo ich eigentlich abgeblieben bin. Die Idee mit den Lupen fand ich nett. Leider waren diese Einkaufswagen so schmal, dass man sich leicht in den Rädern verheddern konnte, sobald auch nur eines der Hinterräder nicht mehr ganz geradeaus zeigte. Welch eine Stolperei! Gitti kennt Schimpfwörter, die ich noch nie zuvor gehört habe.

Großpackungen heißen ja gerne mal Familienpackung, und ihr Inhalt ist nicht mehr verlässlich günstiger als der von Singlepackungen. Vermutlich kann sich die Familienpackung auch nur noch leisten, wer sich auch eine Familie leisten kann. Eine Tafel Schokolade wiegt nicht mehr immer 100g. Eine großformatige Packung hat mitunter weniger Inhalt als eine mit kleineren Außenabmessungen. Der Job des Preisgestalters muss spannender geworden sein.

Die Strategien, mich oder andere Menschen zum Kauf zu animieren, werden zunehmend komplexer. Etwas altertümlich mutet noch der Versuch an, mir beim Kauf ab einem Warenwert von 150,-€ ein winzig kleines Fläschchen Anti-Mückenspray zu schenken. Das Prinzip gibt es noch, dieses Angebot kam erst gestern per Post rein. Daneben existieren Verwirrungstaktiken in Gestalt einer nicht mehr nachzuvollziehenden Tariflandschaft, scheinbar abgefedert durch Vergleichsportale aller Art. Und der Klinkenputzer ist wohlklingend aufgewertet worden, für den habe ich erst letzte Woche ein Stellenangebot gefunden. Deshalb weiß ich jetzt auch: Der Klinkenputzer ist verantwortlich für die Neukundenakquise im Privatkundensektor Door-to-Door. In dem Inserat heißt er natürlich nicht Klinkenputzer, sondern Manager. Ich bin schwer beeindruckt. Die Leute im Callcenter betreiben dann wahrscheinlich Neukundenakquise im Privatkundensektor Ear-to-Ear. Oder Voice-to-Ear? Oder Phone-to-Nervenzusammenbruch? Ruft mich bitte nie wieder an!!!

Und dann müssen die Unternehmen noch etwas dagegen tun, dass die Menschen per Tarifhopping mit ihren Verträgen ständig zu anderen Unternehmen wechseln. Beachte die Richtung! Tarifhopping zu mir hin ist schön, von mir weg ist nicht schön. Und wer ständig wechselt, den will ich lieber auch nicht mit einem Dumpingpreis als Kunden anlocken, denn der hüpft ja sicher bald weiter zur Konkurrenz. Also versuchen einige Unternehmen im ersten Schritt, die ihnen zur Verfügung stehenden Daten auszuwerten. Weil das ganz schön viele Daten sind, nutzen sie dazu auch künstliche Intelligenz.

Eine ausländische Telefongesellschaft hat mal folgende Überlegung angestellt: Aus den Verbindungsdaten können wir ermitteln, wie das Netzwerk unserer Kunden aussieht. Wer telefoniert mit wem, vielleicht sogar, wie oft? Daraus lässt sich ein Soziogramm erstellen. Es gibt Leute, die stellen quasi einen dicken Kontaktknotenpunkt dar. Wenn einer kündigt und viele Kontakte pflegt, die auch bei uns unter Vertrag stehen, dann besteht die Gefahr, dass eben auch seine Kontakte bald kündigen. Zum Beispiel, weil er ihnen am Telefon davon erzählt. Und dann auch noch sagt, wohin er wechselt! Mist!! Gegen die erste Kündigung können wir wenig tun. Wir können aber denen, die wahrscheinlich bald kündigen werden, ein tolles Angebot machen! Einfach so, scheinbar ohne Anlass. Na? Geschäftsidee? Ich weiß nicht, ob sie es umgesetzt haben. Ich weiß auch nicht, ob so etwas hier erlaubt wäre. Natürlich hätte ich Skrupel, und ich möchte selbst lieber nicht so analysiert werden!

So, und jetzt rufe ich meinen Manager für Altkundenbetreuung im Privatkundensektor Gas-Wasser-Scheiße an und bitte um ein Angebot für einen Serviceeinsatz in unserem Hause.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    Wir haben uns heute über deine Story köstlich
    amüsiert liebe Miri! Danke dafür!
    Auch einige eigene interessante Erfahrungen sind uns dabei eingefallen. Wir freuen uns euch die demnächst persönlich zu erzählen.
    Bis bald!

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