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Des Himmels Farben

Gitti und ich machen es uns zu Hause gemütlich. Draußen wettert das Wetter. Dicke dunkle Wolken ziehen herbei und türmen sich hoch auf. Die Wetterfrösche haben Unwetterwarnungen herausgegeben. Ich schaue aus dem Fenster. Südwestlich von uns gewittert es bereits kräftig.

Gitti liest, ich spiele auf meinem Smartphone herum. Gegen 21 Uhr hebe ich den Kopf.

Das Licht hat sich verändert. Große Teile des westlichen Himmels leuchten gefährlich rot, einige Male durchzuckt von langen gelben Blitzen. Zum Süden und nach unten hin gibt es eine Art Grenzlinie, ab der unser Abendhimmel sich in vertrauter, harmloser Art bläulich-weiß präsentiert. Das Schauspiel zieht mich aus dem Sessel. Ich stupse Gitti an. Bald stehen wir beide am Fenster.

Jetzt blinkt etwas im roten Himmel großflächig hellrosa auf, als ob jemand eine zusätzliche Lampe in schneller Frequenz ein paar Mal an- und sofort wieder ausgeknipst hätte. Die Konturen der Wolkentürme werden schärfer, ihre einzelnen Schichten heben sich deutlich voneinander ab. Ich ziehe die Strickjacke ein bisschen fester um meinen Leib.

Brennt es vielleicht im nahe gelegenen Wald? Vorsichtig öffne ich die Tür zum Balkon, zuerst nur einen Spalt breit, dann ganz. Draußen ist es gespenstisch leise. Jetzt wage ich einen kleinen Schritt hinaus auf den Balkon. Kein Lüftchen weht. Ich schnuppere bewusst die Luft. Meine Nase kann keinen Brand detektieren. Eigentlich riecht es hier draußen gerade nach – nichts.

Etwas, das so aussieht und nach nichts riecht – mich durchläuft ein Schauer.

Das westliche Wetterleuchten geht unbeirrt weiter. Die bedrohliche rote Färbung breitet sich immer weiter gen Osten aus. Gitti und ich ziehen uns wieder nach drinnen zurück. Wir gestehen einander, dass wir dieses Schauspiel am Himmel beide als bedrohlich empfinden. Ich mache ein paar Fotos. Auf diese Weise bin ich aktiv und kann meiner blühenden Fantasie Einhalt gebieten. Ein Wind kommt auf. Zuckende Blitze lösen das Wetterleuchten ab, Donner grollen heran.

Nach wenigen Minuten geht draußen das Licht aus. So plötzlich, wie die Färbung vorhin am Himmel sichtbar wurde, verschwindet sie jetzt wieder. Der Himmel ist gefühlt binnen weniger Augenblicke komplett schwarz.

Natürlich weiß ich, dass gerade Sonnenuntergang war und dass die rötliche Färbung des Himmels von der Streuung des Lichtes auf seinem Weg durch unsere Atmosphäre zeugt. Auf diesem Weg prallt das Licht ja beispielsweise auf Gasmoleküle und ändert nach dem Zusammenstoß seine Richtung. Guckt man nicht direkt in die Sonne, sieht man am Himmel das auf diese Weise gestreute Licht. So geht das den lieben langen Tag. Abends und morgens ist der Weg des Lichtes durch die Erdatmosphäre besonders lang. Zu dieser Zeit sehen wir vornehmlich die roten Anteile des gestreuten Lichtes.

Bei allem Verständnis für die Zusammenhänge interessiert sich mein Gefühl für ganz andere Aspekte des Himmelsschauspiels. Meistens empfinde ich ein Abendrot als romantisch und fühle mich besonders gut behütet in die Nacht entlassen. Heute, in Kombination mit so beeindruckend großen Wolkentürmen, fernem Wetterleuchten und langen, fast horizontal über den Himmel schießenden Blitzen, witterte ich vornehmlich die Gefahr, die von der Naturgewalt ausgeht. Ich assoziiere einen Feuer speienden Vulkan am Himmel.

Die Bauern blicken schon seit unzähligen Generationen regelmäßig in den Himmel. Art und Anzahl der Wolken, die Höhe und die Himmelsrichtung, in der sie liegen, die Geschwindigkeit und die Richtung, mit der sie ziehen und auch die Färbung des Lichts gleichen sie mit all ihrer Erfahrung ab. Die Bauern können die Zeichen des Himmels gut lesen. Sie wissen, welches Wetter sich bald einstellen wird. Eine ihrer Weisheiten lautet: „Morgenrot – Schlechtwetter droht, Abendrot – Schönwetterbot.“

Am nächsten Morgen ist der Himmel trüb. Eigentlich regnet es den ganzen Tag über. Und was ist jetzt mit der Bauernregel? Die passt schon gut, schließlich lagen ja die ganzen Wolkenhaufen gestern am Abend im Westen. Bei uns weht der Wind meistens aus westlicher Richtung. Die Bauernregel gilt, wenn es die abends angestrahlten Wolken schon weiter gen Osten getrieben hat und der Himmel im Westen möglichst wolkenfrei ist. All diese Bedingungen in der kurzen Bauernregel zu erwähnen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Man muss schon ein bisschen mitdenken – wie so oft im Leben.

Gitti und ich tauschen unsere Bilder mit Freunden und Bekannten aus der Region aus. Alle fanden sie das Schauspiel beeindruckend. So weit ich weiß, hatte niemand von ihnen romantische Assoziationen.

Dennoch fühlte ich mich in dieser Nacht ganz gut behütet. Das lag aber mehr an dem gemütlichen Zuhause, in dem ich mich gemeinsam mit Gitti verkriechen konnte.

So – nun habe ich das alles mal aufgeschrieben, und jetzt muss ich dringend raus. Da draußen herrscht nämlich gerade schönstes Wetter. Am strahlend blauen Himmel hängen fluffige Schäfchen-Wolken, die nur ganz langsam von West nach Ost ziehen. Die Sonne sorgt für angenehme Temperaturen … und für morgen haben die Wetterfrösche wieder Regen und trübere Himmelsfarben versprochen.

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