Mitten in der Woche treibt es uns ins Theaterhaus. Moderner Tanz steht auf dem Programm, das wird sicher spannend. Den ganzen Tag schon fiebere ich dem Abend entgegen. Ich beeile mich mächtig bei der Arbeit, um ja rechtzeitig fertig zu werden. Zum frühen Feierabend hin fühlt sich mein Köper etwas durchgequirlt an. Wer genau hinsieht, entdeckt bestimmt kleine Rauchwölkchen, die stetig aus meinem Kopf gen Himmel aufsteigen.
Der Verkehr ist mäßig, Gitti und ich kommen gut durch und sogar überpünktlich an. Schnellen Schrittes erklimmen wir alsbald die Stufen zum Einlass in den Saal. Gitti und mir gelang es bislang noch nie, diesen Theatersaal als erste Zuschauerinnen zu betreten. Unser Ehrgeiz richtet sich auf andere Dinge. Wir müssen nicht überall die Ersten sein. Heute ist Premiere, heute sind wir die Ersten.
Ich lasse meinen Blick über die noch leeren Reihen schweifen. Die Vorstellung ist ausverkauft. Vermutlich werden in den nächsten Minuten etwas mehr als tausend Leute ihre Plätze auf den Rängen einnehmen. Ich werfe noch einmal einen Blick auf mein Ticket. Unsere Plätze befinden sich relativ weit hinten auf der Empore, dafür aber schön mittig. Wir werden eine hervorragende Sicht auf das Geschehen haben.
Auf dem grauen Fußboden geben schwarz aufgemalte Zahlen dezente Hinweise, wo sich welche Reihe befindet. Ich gehe treppauf, die Augen auf die Zahlen geheftet. Auf der Empore folgen den Reihen 1, 2 und 3 heute die Reihen 8, 9 und 10. Danach kommt die 7. Ich mache eine Vollbremsung, Gitti läuft auf. Ungehalten fragt sie, was denn bloß los ist und wieso ich einfach stehenbleibe. Ich zeige mit ausgestrecktem Arm auf den Boden. Die Zahlen 8, 9 und 10 wurden mit blauem Edding auf weiße Klebeschilder gemalt. Sie überdecken die Zahlen, die da sonst auf dem Boden zu sehen sind, nämlich die 4, die 5 und die 6. Gitti guckt abwechselnd auf ihre Eintrittskarte und auf den Boden. Sie schüttelt den Kopf. Dann gewinnt ihr Pragmatismus die Oberhand. Sie überholt mich und sagt: „Das betrifft uns nicht, wir sitzen in Reihe 7. Komm jetzt endlich!“
Wir nehmen unsere Plätze ein.
Hinter uns gibt es natürlich ebenfalls noch Reihen mit den Nummern 8, 9 und 10. Ich drehe mich im Sitzen so weit nach hinten um, wie ich nur kann. Dann zähle ich durch. Die letzte Reihe müsste die 11 sein. Das verspricht, spannend zu werden. Wie die anderen Menschen wohl auf die verwirrende Beschriftung reagieren?
Von links und rechts strömt das Publikum auf verschiedenen Ebenen in den Saal. Nur selten erspähe ich jemanden, der nicht noch einmal gezielt seine Eintrittskarte mit der Nummerierung der Reihen und Plätze vergleicht. Scheinbar lernt also kaum einer vor Betreten des Saales die Bezeichnung seines Platzes auswendig.
Ich bin erstaunt darüber, wie viele der Leute gerade mit ausgestrecktem Finger die Zahl der Plätze zählen, die bis zur Mitte ihrer Reihe noch unbesetzt sind. Diese Leute bleiben mehrheitlich unschlüssig vor ihrem hochgeklappten Sitz stehen. Sie wollen nicht noch einmal aufstehen müssen, um anderen Gästen den Weg zum gebuchten Platz zu ermöglichen. Die meisten von ihnen richten den Blick hinunter zur Bühne und lehnen sich rückwärts an den Unterteil ihres Sitzes an. Ein paar stehen quer im Gang, wenige davon mit dem Rücken zum Einlass. Wer an ihnen vorbeigehen möchte, muss sie vorher ansprechen oder sich sonst irgendwie bemerkbar machen.
Interessant finde ich, dass die Mehrheit der Menschen, die sich nun an den bereits anwesenden Leuten vorbeiquetschen müssen, ihre Mitmenschen direkt ansehen. Erfreulich viele bedanken sich bei der Gelegenheit für den Durchlass oder grüßen freundlich. Wer das vermeiden möchte, dreht sich beim Durchquetschen einfach weg, guckt möglichst starr halb nach vorne, halb in Richtung Bühne und dreht den anderen Zuschauern in der Reihe bewusst den Rücken zu.
Es gibt Leute, die sich bereits gesetzt haben und unter keinen Umständen wieder aufstehen werden. Kommt noch ein Nachzügler in die Reihe, so rutschen sie auf ihrem Sitz nur etwas herum, wenden ihre Knie und Fußspitzen in eine Richtung und halten die Luft an, wenn der andere mit seinem Hintern nur wenige Zentimeter an ihren Nasenspitzen vorbeizieht. Zwei Reihen vor uns verwandelt sich bei solch einem Manöver gerade eine Handtasche in eine Keule. Sie trifft schwungvoll auf den Hinterkopf einer Zuschauerin, die eine Reihe weiter unten bereits Platz genommen hat. Es folgt ein kleiner Wortwechsel. Den Gesten nach zu urteilen, nimmt die getroffene Dame schließlich eine Entschuldigung an. Sicherheitshalber verharrt sie auf ihrem Sitz nun vornübergeneigt, bis die Reihe hinter ihr endlich vollständig aufgefüllt ist.
Bei uns auf der Empore legen die meisten Zuschauer eine Vollbremsung ein, sobald sie die nummerierten Klebeschilder auf dem Boden entdecken. Wer nicht alleine gekommen ist, berät sich und verursacht einen Rückstau. Auf Höhe der Klebeschild-Reihe 9 zischt eine Dame ihren Gatten an, er solle sich gefälligst um das Problem der Platzsuche kümmern. Sie selbst stellt sich derweil etwas abseits und umklammert beleidigt ihre Handtasche. Auf seinem und dem Platz seiner Gattin sitzen bereits andere Zuschauer. Des Gatten Kopf färbt sich rot ein. Gestresst versucht er, eine Klärung herbeizuführen. Eintrittskarten werden verglichen. Man diskutiert lautstark darüber, ob dies nun Reihe 5 sein müsste oder doch Reihe 9. Der Gatte kratzt sich am Kopf. Dann fragt er mich, in welcher Reihe wir sitzen. Zusammen zählen nun der Gatte und die bereits auf den Platzen sitzenden Leute die Reihen ab.
Es folgt ein Umzug auf die weiter hinten liegende Reihe 9. Mehrere Menschen müssen aufstehen und die vertriebenen Gäste durchlassen. Der Gatte wühlt sich ihnen bereits entgegen. Die beleidigte Gattin schickt sich erst an, ihren Platz ebenfalls einnehmen zu wollen, als alle anderen sich bereits wieder gesetzt haben. Ein erneuter Aufstand ist erforderlich.
Ein anderer Zuschauer stürmt mit seiner Karte wieder nach draußen. Er lässt jetzt offiziell klären, wo er sitzen wird.
Manche nehmen es mit Humor, andere empfinden den Abend bereits jetzt als verdorben.
Irgendwann taucht ein Mann mit rotem Vollbart auf, entfernt zuerst die Klebeschilder und dann sich selbst. Ist er ein Mitarbeiter des Hauses? Ich sehe amüsiert zu Gitti, die das Geschehen ebenfalls aufmerksam beobachtet. Ist das mit den Klebeschildern eigentlich ein Versehen oder sind wir Teil eines bewusst initiierten unsichtbaren Theaterstücks?
Das Licht wird gedimmt. Langsam kehrt im Saal Ruhe ein. Die Vorstellung beginnt – also die des sichtbaren Theaters …
Herrlich, kennen wir alle 🙂 Ich las mal einen witzigen Artikel dazu in der SZ, gerne u.s. zum Nachlesen, weil wirklich witzig geschrieben. LG und Danke für Deine Teilhabe.
https://sz-magazin.sueddeutsche.de/leben-und-gesellschaft/kino-platz-streit-reservierung-88182