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Innerer Rotstift

Ich sitze im Bett und schlürfe meinen Cappuccino. Es ist früh am Morgen, Gitti hat den Fernseher angeworfen und heraus schallen Nachrichten. Oder doch nicht? Ich bin noch nicht richtig wach. Der heiße Trank tut gut, wärmt meine Synapsen auf und schubst mich vorsichtig in den Tag.

Plötzlich wird es laut neben mir: „So doch nicht! Falsch!! Wie kann man nur!“ Gitti regt sich auf. Das muss an ihrem Beruf liegen. Es stellt sich heraus: Gitti vermisst bei des Moderators Rede die korrekte Anwendung des Genitivs. „Geh nie tief ins Wasser“, trage ich unqualifiziert murmelnd bei. Und dann, Gitti hat sich gerade wieder beruhigt, da wagt der Moderator noch etwas, indem er uns wissen lässt: „Da passieren spannende Nachrichten.“ Gitti verschluckt sich und hustet wütend vor sich hin. Meine Tasse muss ich fest mit beiden Händen umschließen, um das kostbare, herrlich duftende Getränk nicht zu verschütten.

Ich glaube ja, dass Gitti einen inneren Rotstift hat. Und den zückt sie immer, wenn … Nein, das stimmt nicht. Gitti zückt ihn nicht aktiv. Der innere Rotstift zückt sich selbst. Gitti kann nämlich weder etwas dafür noch ist sie imstande, etwas dagegen zu tun. Das ist ein Selbstläufer. Und hochgradig ansteckend noch dazu!

Gestern sind wir zum Biergarten gewackelt. Auf dem Weg ist mir ein Schild in den Weg gesprungen. Ich schwöre, zwei Millisekunden zuvor stand das noch nicht da!! Und kurz vor dem Aufprall, den ich zu vermeiden trachtete, sprang mir ein Teil des Textes in die Augen, den das Schild so tapfer trug: „Wir bieten Dir Nachhilfe: … in den Fächern, wo Du es brauchst!“

Gitti hatte das Schild gesehen und auch schon einen eleganten Bogen darum herum gemacht, aber in mir zückte sich ein virtueller roter Stift, unterstrich wild das „Wo“ und brachte mich dazu, ein feuriges: „Aber besser nicht im Fach Deutsch!“ auszurufen. Und so erkannte ich, dass auch in mir ein solcher Rotstift wohnt. Hui, wie unangenehm!

Spontan warf ich mir Arroganz vor. Ich kann mich nicht mit meinem Beruf herausreden. Und mir ist durchaus bewusst, dass ich sprachlich auch nicht immer auf der Höhe der Regeln bin. Manche davon verletze ich bewusst, zum Spaß, manche versehentlich, und manche Regel kenne ich gar nicht, habe sie vergessen oder zumindest nicht verinnerlicht. So – und auch an diesem Satz gäbe es vielleicht etwas zu kritisieren. Also: Ich bin nicht besser, aber manchmal ein bisschen pedantisch. Warum das spontan immer vorne über die Zunge und hinaus in die Welt hüpfen will, weiß ich nicht. Wichtig ist mir aber: Niemand ist schlecht oder blöd, nur weil sein Textstück mal nicht alle Regeln erfüllt. Nehmt mir meine Schrullen bitte nicht übel, und sprecht bitte weiter frei nach Schnauze mit mir. Sonst erfahre ich nichts über Eure Gedanken, und die sind es ja schließlich, die mich interessieren!

Das Spiel mit der Sprache gefällt mir. Steht das meiner Pedanterie im Weg? Oder umgekehrt? Nein! Ich genieße es sehr, wenn ich gelungene Formulierungen finde, wenn Sprache mal witzig verbogen wird oder durch kleine Unschärfen entstandene Mehrdeutigkeiten meinen Geist anregen. Immer noch liebe ich verschachtelte Sätze. Ja, und auch Formulierungen, die Stimmungen zaubern und mich irgendwohin entführen.

Früher, als das Fernsehen nur korrekt gebildete Sätze ausstrahlte, war der Akt des Fernsehens viel langweiliger als heute. Wirkt dieses Medium immer noch als sprachliches Vorbild? Wenigstens die Nachrichten wünsche ich mir wohl formuliert und sprachlich einwandfrei. Bei Zeitungen bin ich genauso humorlos. Das Korrekturlesen gehörte einst zum Berufsbild der Setzer. Inzwischen gibt es den Beruf nicht mehr. Und die Qualität der Artikel quält mich immer mehr. Genug davon! Ich bin froh, dass unsere Sprache lebt und sich mit der Zeit verändert, auch wenn es manchmal wehtut. Mit meinem wöchentlichen Geschreibsel reihe ich mich außerdem selbst in die Riege der Schmierfinken ein.

Zum Glück ist mein Rotstift innen. Da fällt mir ein: Ich hatte mal einen Kollegen, der hatte stets einen grünen und einen roten Stift in der Hemdtasche. Diese Stifte hat er gezückt, wenn er die Arbeit der Technischen Zeichner prüfte. Dabei verzierte er deren Zeichnungen hemmungslos mit grünen Häkchen und grünen, wohlwollend gemeinten Hinweisen, zudem mit roten Hinweisen, die etwas weniger wohlwollend waren und mit wirren roten Strichen und Skizzen, anhand derer manchmal kaum noch zu erkennen war, worum es ihm ging.

Bei Männerhemden sind diese Taschen meist links. Eines Tages kam der Kollege mir kurz nach der Mittagspause auf dem Gang entgegen. Vor mir lief einer der Technischen Zeichner. Und der ballte kurz nach seiner Begegnung mit dem ihm so verhassten Kollegen die Faust, als hätte er ein Tennismatch gewonnen. Mein Kollege kam näher. Auf seinem Hemd prangte ein großer roter Fleck. Direkt über dem Herzen. Hat ihn der Zeichner schnell und unbemerkt mit einem Messer angegriffen?

Nein. Als wir fast auf gleicher Höhe waren, sah ich, dass sich des Kollegen äußerer Rotstift in die Hemdtasche ergossen hatte. In mir explodierten sofort ein paar Fragen: Fand der Stift den Kommentar, der mit ihm, dem Rotstift, am Vormittag auf der Zeichnung des Zeichners platziert wurde, wohl genauso zum Kotzen, wie ihn der Technische Zeichner fand, der sich da vor mir so schadenfroh freute? Was wird die Frau des Kollegen sagen, wenn er am Abend so besudelt nach Hause kommt? Und wann wird er endlich lernen, dass dieser Typ Rotstift häufiger mal ausläuft? Seine Kollegen wussten das schon lange, außer ihm steckte niemand mehr diese Stifte in irgendwelche Taschen! Bei uns im Büro gab es übrigens auch noch andere Rotstifte, und zwar solche, die nicht ausliefen! Aber die mochte er nicht.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Tom

    Hallo Miri,

    wie immer vielen Dank für einen weiteren Artikel, der in amüsanter Weise zum Denken anregt.

    Das ist wieder so ein Thema, welches mir am Herzen liegt, denn auch Leli und ich habe einen inneren Rotstift, der sich bei geeigneten Anlässen spontan selbst zückt. Ich Stimme Dir absolut zu, solange es um humoristische und gewollte Freiheiten geht, durch die ein amüsanter und erklärender zusätzlicher oder tieferer Sinn bewusst oder unbewusst erzielt wird, aber auch uns fällt immer häufiger schmerzlich auf, wie eklatant grundlegende Regeln der Deutschen Sprache von Leuten verletzt wird, die gerade den Gebrauch dieser Sprache zu ihrem Berufsinhalt gemacht haben. Bei solchen Personen – vulgo Reporter:innen – sind offensichtliche Fehler in der Grammatik ein Bruch, der vom wieder gegebenen Inhalt ablenken und die Aufmerksamkeit auf die Sprache richten und das sollte nicht der Inhalt einer Reportage sein. Leider häufen sich solche Ereignisse immer mehr.

    Natürlich verändern sich Sprachen fortlaufend und der „Akku-Dativ“ ist seit Jahrzehnten schleichend um sich greift oder in jüngerer Zeit die verschiedenen Formen des Genderns. Man muss diese ‚Veränderungen nicht mögen, aber wenn diese ihren Weg in die offizielle Sprache finden, sind sie die neue Norm. Diese Norm legt in Deutschland seit 2018 der Rat für deutsche Rechtschreibung fest https://de.wikipedia.org/wiki/Rat_f%C3%BCr_deutsche_Rechtschreibung.

    Es bleibt jeder und jedem selbst überlassen, wie er oder sie schreibt oder spricht, aber gewissermaßen als Gegenleistung für diese Freiheit behalte ich mir vor, die so entstandene Sprache nach meinen eigenen Maßstäben zu befürworten oder mehr oder weniger vehement abzulehnen. Ähnlich geht es ganz offensichtlich auch Euch und das wieder begrüße ich genau wie Euren reflektierten und weil in hohem Maße mit meinen persönlichen Regeln kompatiblen für mich sehr angenehmen Sprachgebrauch. Vielleicht ist das eine Nebenerscheinung einer Sozialisierung in einem ähnlichen Umfeld; ich merke das immer wieder, wenn ich mich mit Euch und anderen alten Freunden treffe im Gegensatz zu Freunden, die aus anderen Ländern stammen oder die in anderen Umfeldern aufgewachsen sind. Ich merke immer wieder, daß große Abweichungen bei der Formulierung berücksichtigt werden müssen, weil sonst das gegenseitige Verständnis nicht immer gegeben ist oder zumindest Nuancen der beabsichtigten Information verloren gehen.

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