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Kurz vorm Fest

Es ist kurz vor Weihnachten. Im Büro gibt es zwei Fraktionen: Während die einen hektisch versuchen, den vor ihnen liegenden Berg abzuarbeiten, räumen die anderen ganz entspannt auf. Auch entspannt lassen sich irgendwelche Berge abarbeiten. Beide Gruppen sind einander etwas unheimlich. Das war schon immer so. Vermutlich wird sich daran auch in Zukunft nichts ändern. Ohne dieses Ritual zum Jahresendspurt werden wir einfach nicht mit dem „alten“ Jahr fertig. Übrigens sind auch Rentner davon befallen. Und Hand aufs Herz – allen würde etwas fehlen, wenn es nicht genau so wäre, wie es ist!

Auf den letzten Drücker füllen sich die Innenstädte. Dieses Jahr finden sogar Gitti und ich uns auf dem schönen Weihnachtsmarkt in Esslingen ein. Hier gibt es neben dem Weihnachtsmarkt einen Mittelaltermarkt. Ja, es ist voll. Dennoch können wir so einiges in Ruhe bewundern, und zwar ohne gleich die Ich-will-sofort-hier-weg-Krise zu bekommen. Sogar dem Glühwein sprechen wir ein wenig zu. Der Mittelaltermarkt bietet in diesem Jahr wieder herrliche Attraktionen. Es gibt ein wirklich sehr kleines, von Hand betriebenes Riesenrad, ein paar Werkstätten, die altes Handwerk zeigen, ein Märchenzelt und vieles mehr. Jung und Alt sind begeistert.

Im Zwergenland entdecke ich ein Zelt. Hier sehen Gitti und ich fasziniert dabei zu, wie Teenager und Twens mit großer Begeisterung ein ganz einfach aufgebautes und richtig analoges Spiel spielen. Hinter einer Absperrung sind in verschiedenen Abständen einige Baumstümpfe unterschiedlicher Höhe aufgestellt. Auf jedem der Baumstümpfe liegt eine Walnuss. Die Teens und Twens werfen abwechselnd mit schweren Kugeln in Richtung der Nüsse. Knacken sie auf diese Weise eine der Nüsse, so bringt ihnen dieser Erfolg vermutlich den Inhalt der geknackten Walnuss, aber vor allem viel Lob ein. Gitti und mir wird warm ums Herz.

Auf der Heimreise sitzen wir weinselig in der S-Bahn. Ich schaue staunend umher. Was die Mitreisenden so alles eingekauft haben! Fest im Griff einer jungen Frau entdecke ich ein hölzernes Steckenpferd. Mit grauem Plüsch-Kopf, weißer Mähne, rotem Zaumzeug und goldenem Glöckchen. Ob die gute Frau das Steckenpferd wohl verschenken will? Oder gehört sie zu den hippen Sportlerinnen, die der neuen Trendsportart aus Finnland verfallen sind? Gitti guckt mich irritiert an, als ich sie um ihre Einschätzung bitte.

Bald jedoch erinnert auch sie sich daran, dass wir neulich einen Bericht über Hobby Horsing gesehen haben. Das ist eine hochoffizielle Sportart! Auch erwachsene Menschen schwingen sich dabei auf ein schönes hölzernes Steckenpferd und hüpfen damit durch einen Parcours. Es gibt Turniere und Meisterschaften. Die Athletinnen und Athleten messen sich dabei im Dressur- oder Springreiten. Sie müssen halt selbst über die Hindernisse springen oder elegante Choreographien darbieten. Den aktuellen Weltrekord beim Überspringen eines Hindernisses mit dem Steckenpferd hält meines Wissens zurzeit eine 14-Jährige Schülerin namens Lotta. Mit ihrem geliebten Steckenpferd zusammen sprang sie über ein 1,42 m hohes Hindernis. Respekt!

Noch in der S-Bahn sitzend recherchiere ich ein wenig zum Thema. Im Internet kann man diverse Devotionalien erstehen. Besonders gefällt mit ein Shirt, auf dem die Schrift auf dem Kopf steht. Der Text lautet: „Wenn Sie das lesen können, setzten Sie mich bitte wieder auf mein Hobby Horse.“

Zu Hause angekommen begeben wir uns dann bald ins Bett. Gitti sieht noch etwas fern, während ich ganz schnell genau ein Schaf zähle und im allernächsten Augenblick bereits in einen tiefen, erholsamen Schlaf falle.

Als um 5:25 Uhr der Wecker klingelt, bin ich mir sicher, dass im Haus etwas Magisches vor sich geht. Noch etwas unkoordiniert begebe ich mich in die Küche, um für Gitti und mich einen leckeren Cappuccino zu kochen. Aus dem Wohnzimmer dringen Geräusche. Als ich vorsichtig hineinspähe, ertappe ich ein paar unserer Stofftiere dabei, wie sie gerade eine Polonaise über unseren Teppich tanzen. Die kleine Musikkugel aus der Küche begleitet sie. Den Anfang macht Gittis weißes Plüsch-Einhorn, gefolgt von meiner Plüsch-Kuh. Das kleine, lustig guckende Lamm reitet auf der grünen Schildkröte. Den Abschluss machen die Koala-Mama mit den großen Ohren und ihr Kind, das sich am Rücken seiner Mama festgeklettet hat.

Etwas verstört, aber gleichzeitig auch verzaubert kehre ich mit den heißen Getränken alsbald ins Schlafzimmer zurück. Ich singe kurz meine kleine, schiefe Weise: „Der Kaffee ist fertig.“ So viel Zeit muss einfach sein. Und dann erzähle ich Gitti, was bei uns los ist, wenn die Stofftiere denken, wir würden schlafen.

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