Gitti und ich haben es uns gemütlich gemacht. Wir tauschen Erinnerungen aus. Fast alle der Begebenheiten, die wir da Revue passieren lassen, beginnen mit: „Weißt Du noch, …?“
Gemeinsam blicken Gitti und ich also zurück – und dabei auch ein bisschen ins Glas. Wir kredenzen uns einen herrlichen Wein aus der Region. Auf manche Erinnerung müssen wir bestimmt gleich mal freudig anstoßen!
Zum Thema: „Weißt Du noch, wie es Dich hier in die Region verschlug?“, hatte ich Folgendes zu bieten:
Nach meinem Studium suchte ich Arbeit. An einem Montagabend um 17:59 Uhr war ich die letzte Kundin im Postamt. Ich gab einen großen braunen Umschlag auf und versendete meine sorgfältig gestalteten Bewerbungsunterlagen. Am nächsten Mittag hatte die Bewerbung bereits ihren Weg auf etwa 420 km weit entfernt gelegene Schreibtische gefunden. Das Telefon klingelte am frühen Nachmittag. Durch den Hörer, den ich ungläubig an mein Ohr presste, dröhnte die Frage, ob ich wohl am nächsten Morgen um 10:15 Uhr zum Vorstellungsgespräch kommen könnte. Ich war ein bisschen schockiert, sagte aber natürlich sofort zu. Eilig erkundete ich Straßenkarten, fertigte eine kleine Wegbeschreibung an, prüfte, in welcher Kleidung ich auftreten könnte und fuhr zur nahe gelegenen Tankstelle. Am darauffolgenden Morgen machte ich mich gegen 4:15 Uhr auf den Weg. Ich wollte auf gar keinen Fall zu spät eintreffen!
Das Gespräch lief gut. Die Firma hatte es plötzlich unglaublich eilig. Mit Mühe schlug ich zehn Tage heraus, die ich zur Vorbereitung meines Arbeitsantritts noch nutzen wollte, um meine Freunde und auch mich selbst auf den bevorstehenden Ortswechsel vorzubereiten. Schon auf der Rückfahrt vom Vorstellungsgespräch zu meinem geliebten Studienort Aachen ertappte ich mich dabei, meine Zusage insgeheim infrage zu stellen. Das ist echt weit weg!! Meine Mutter hatte es meinen Geschwistern und mir jedoch bereits im Kindesalter eingeschärft: „Ihr müsst da hingehen, wo es Arbeit gibt!“
Die ersten zwei Wochen wurde ich in einem Hotel untergebracht. Es war März. Die Abende verbrachte ich vorwiegend frierend in einer Telefonzelle. Die Beschaffung von Kleingeld für den gefräßigen Telefonapparat, der in dieser gelben Zelle hing, trieb mich regelmäßig zum Vesperlädle der Firma. Für Leute aus anderen Regionen: Das Vesperlädle war ein kleiner Kiosk, in dem die Kollegen vor allem ihr Vesper kauften, also vorwiegend Brötchen und Getränke, die sie im Büro so über den Tag verteilt zu verzehren trachteten. Ich kaufte dort wahllos irgendetwas ein, nur um ausreichend Münzen für die abendlichen Telefonate zu sammeln. Nach den Hotel-Wochen zog ich interimsweise in ein möbliertes Appartement, das die Firma mir kostenfrei zur Verfügung stellte. Zu Hause verkaufte ich mein Fahrrad und bereitete meinen Umzug in die Ferne vor.
In dieser Ferne pflegte ich mein Heimweh, lernte viel und überwand allmählich die sprachlichen Hürden. Die hier verbreitete Mundart stellte eine echte Herausforderung dar. Am Ende jeder Besprechung sagte mein Chef: „Ha, machet Sie sich mol Gedanka, ond noh schwätza mir wiedr.“ Und ich hatte keine Ahnung, über was eigentlich. Zum Glück fuhr des Chefs Finger beim Reden immer über diverse Zeichnungen, so hatte ich wenigstens einen Anhaltspunkt. Nachfragen war zwecklos, denn damit handelte ich mir nur noch mehr schwäbischen Wortbrei ein.
Zwei Jahre später lernte ich Gitti kennen. Welch eine Bereicherung!
„Weißt Du noch, als wir das erste Mal zusammen in Aachen waren?“, frage ich Gitti. Sie grinst, und wir stoßen erstmal auf diesen Erinnerungs-Teil an. Soviel Zeit muss einfach sein! Der Wein, den sie hier zum Beispiel im Remstal anbauen, ist einfach ein tolles Tröpfchen. Der Öcher, wie der Aachener sich selbst gerne nennt, würde sagen: „Dä schmeckt, als ob et Engelschen Dir die Zong küsst!“ Wer lässt sich nicht bereitwillig von einem Engelchen die Zunge küssen, wenn das Engelchen als leckerer Wein daherkommt!
Gitti erinnert sich: „Ja, bei der Gelegenheit haben wir doch auch meine Nichte und ihren damaligen Freund besucht.“ Gemeinsam rekonstruieren wir Teile dieses Tages:
Mit der Nichte und deren Freund schlenderten wir bei herrlichem Wetter durch Aachen. Ja, das Wetter war wirklich super, und das ist für Besucher Aachens bemerkenswerter als für ortsansässige Leute. Letztere wissen schließlich, dass es in Aachen nicht ständig regnet! Gittis Nichte und ihr Freund studierten zu dieser Zeit in Aachen.
Ich kannte weder Nichte noch Freund, Gitti bis dahin ihre Nichte, dafür aber die schöne Stadt nicht, und der Freund zwar die Nichte und die Stadt, dafür aber uns nicht. Der Freund hatte in Vorbereitung unseres Treffens bereits davon gehört, dass ich in Aachen studiert hatte und fragte im Verlauf unseres Zusammenseins, wo ich denn damals gewohnt habe. Ich nannte ihm den Straßennamen meiner letzten Aachener Adresse. „Und wo genau da?“, wollte er wissen. Ich erwähnte, dass es im Haus eine Bäckerei gab. Der Nichte Freund sagte, er habe in dem Haus mit der Bäckerei mal ein Fahrrad gekauft. Im dritten Stock. Ja – und genau dort habe ich einmal mein Fahrrad verkauft.
Ein kurzer Zeitabgleich sichert die Erkenntnis: Die Welt ist echt klein!
Gitti erinnert sich noch ausgesprochen gut an unsere Gesichtsausdrücke. Verblüfft sahen wir uns an, stellten fest, dass wir einander offensichtlich damals schon mal begegnet sind und bei der Gelegenheit sogar einen bescheidenen Handel miteinander trieben! Nur einen kleinen Handel!! Das versteht sich von selbst und erklärt unser spontanes und gegenseitiges Nicht-Wiedererkennen. Darauf stießen wir zu viert gemeinsam und durchaus ausführlich an. Wie schön, dass die Welt so klein ist!
Übrigens: Das Fahrrad habe ich kurz vor meinem Umzug nur verkauft, weil ich Süddeutschland für zu bergig hielt, als dass ich dort je Freude am Fahrradfahren finden könnte. Wie lange es in der Obhut seines neuen Besitzers noch hielt, verraten wir nicht. Aus diesem Freund wurde später der Nichte Gatte. Und diese kleine Geschichte schenken Gitti und ich ihm jetzt gerne zum x-sten Geburtstag. Schenk‘ uns einen ein und lass‘ Dich ordentlich feiern!
In dem Spruch küsst das Engelchen aber nicht die Zunge, doch ich will es Dir nachsehen, aus Rücksicht auf die zarten Gefühle Deiner Leser den Spruch abngenehmer zu gestalten.
Wann kommt Ihr denn mal wieder in unsere Gefilde?
Viele Grüße Tom & Leli
Danke für das Teilen von dieser sehr persönlichen Geschichte. Sie ist wirklich sehr nett, und zeigt uns wie diese kleine Welt, Großes hervorbringt!