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Das Vokabelchaos

Ich bin zu Gast in einem anderen Land, also versuche ich, meinen Gastgebern Respekt zu zollen. Eine einfache Möglichkeit, diesen Respekt zum Ausdruck zu bringen, bietet die Sprache. Meine Kenntnisse sind auf diesem Gebiet durchaus begrenzt. Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf.

In der Regel erwartet niemand von mir, dass ich die Landessprache wirklich spreche. Wenn ich wenigstens versuche, ein paar Worte zu lernen, vielleicht sogar ein paar Sätze, ernte ich häufig Wohlwollen. Meine Gastgeber freuen sich über jeden noch so misslungenen Versuch, in Landessprache eine Bestellung aufzugeben, einen schönen Tag zu wünschen oder eine Überleitung zu einer anderen Sprache zu finden, die dann wenigstens allen gemeinsam fremd ist. Zur Not landen wir zusammen bei virtuos dargebotenen Pantomime-Einlagen. Gastgeber und Gast entwickeln bei diesem Prozess der Verständigung oft ein Gefühl gegenseitiger Sympathie. Das hilft beiden Seiten, sich weiter um das Gelingen der Kommunikation und die Bewältigung der aktuellen Situation zu bemühen. Ich muss nicht jeden mögen und werde auch nie everybody‘s darling sein. Darum geht es auch nicht!

Gitti und ich befinden uns auf Sardinien. Unsere Italienisch-Kenntnisse sind unterschiedlich umfangreich. Gitti kennt sich da erheblich besser aus als ich. Viel zu kurz vor Antritt unserer Reise habe ich versucht, schnell noch ein paar Vokabeln aufzufrischen. Im letzten Urlaub brauchte ich spanische Vokabeln. Beide Sprachen ähneln einander so sehr, dass ich ständig durcheinanderkam. Daran wird sich wohl nichts geändert haben. Na, das kann ja heiter werden!

Die Dame, die uns an der Rezeption empfängt, spricht etwas Englisch. Gitti und ich auch. Der Rezeptionistin italienischer Akzent klingt in unseren Ohren vermutlich genauso witzig, wie unser deutscher Akzent in ihren Ohren. Gemeinsam meistern wir die Formalitäten beim Einchecken. Wir verstehen zwar nicht alles, was sie uns zu sagen versucht, aber wir sind im Anschluss daran guter Dinge, dass wir die wichtigsten Informationen aufgenommen haben. Probleme auf Basis irgendwelcher Unklarheiten erwarten Gitti und ich nicht.

Am nächsten Abend erreicht uns die Nachricht, dass unser Reiseveranstalter Insolvenz angemeldet hat. Wir wissen nicht, was das für den weiteren Verlauf unserer Reise bedeutet. Immerhin sind wir schon mal hier, der Rest wird sich sicher finden. Gittis Augen leuchten klammheimlich ein wenig, als sie sich vorstellt, dass wir unseren Aufenthalt notfalls verlängern müssen.

Eine Mail trifft ein. Deren Kernsatz lautet: „Pauschalreisen von Gästen, die sich bereits im Urlaub befinden, werden regulär durchgeführt.“ Das klingt doch gut. Falls nötig, werden sicher weitere Informationen folgen. Unbeirrt konzentrieren Gitti und ich uns deshalb auf unseren schönen Urlaub.

Die Mehrzahl der zeitgleich mit uns anwesenden Gäste spricht französisch. Das Hotelpersonal hat sich darauf eingestellt. „Bonjour!“, tönt es zu fast jeder Tageszeit laut und freundlich aus allen Ecken. Gitti schwingt sich schnell ein und parliert so hier und da in französischer Sprache.

Ich möchte mich so gerne der Landessprache bedienen und versuche beharrlich eine italienische Antwort. Aus meinem Mund purzelt jedoch zuverlässig: „¡Buenos días!“ Je nach Tageszeit verändert sich das zu „¡Buenas tardes!“ oder „¡Buenas noches!“ Ja, nicht nur mir kommt das spanisch vor!

Das ist natürlich nur die Spitze des Eisbergs. Wohin ich mich auf der schönen Insel auch bewege, immerzu schlägt das Vokabelchaos unbarmherzig zu! Neben dem täglichen Grüßen erwischt es mich beim Bestellen von Getränken oder Speisen, beim Fragen stellen und bei den wenigen Versuchen, eine kleine Erzählung wenigstens mit einem kleinen italienischen Satz zu garnieren. Wer weiß, welchen Unsinn ich schon erzählt habe, nur weil ich unbedingt italienisch klingende Wörter verwenden musste. So hier und da bemerke ich meinen Fehler. Den will ich dann natürlich nicht so stehen lassen. Mal lächle ich meinen Fauxpas einfach weg, mal korrigiere ich mich mit einem um eine Entschuldigung bittenden Blick. Manchmal reicht es nur zu einer frustrierten, wegwerfenden Handbewegung. Ich stilisiere das Vokabelchaos zu einem ganz gemeinen Wesen, das sich einen Spaß daraus macht, mich bloßzustellen. Dann stürme ich wacker weiter auf meinem sprachverwirrten Weg.

Eines Morgens sitzen Gitti und ich beim Frühstück auf der Terrasse des Hotels. Ein älteres Ehepaar sitzt am Nebentisch. Beide haben eine sehr angenehme Ausstrahlung. Sie kommunizieren miteinander rege und recht leise. Wir spüren die gegenseitige Fürsorge, die das Paar vermutlich schon seit vielen Jahren fest in Harmonie verbindet. Nun stehen sie auf, verabschieden sich mit einem Kopfnicken und einem Lächeln von uns, und dann streben sie unaufhaltsam ihrem weiteren Tag entgegen.

An der Rückenlehne des Stuhls, auf dem eben noch die freundliche Dame saß, hängt ganz verloren ihre Tasche.

Gitti und ich tauschen einen Blick. Ich rufe dem Paar etwas hinterher, aber sie hören mich nicht. Also schnappe ich mir die Tasche. Deren Reißverschluss ist offen. Oje, was werden sie wohl von mir denken, wenn ich mit der vermeintlich bereits durchsuchten Tasche bei ihnen auftauche? Egal, ich muss sie erwischen, bevor das Unglück seinen Lauf nimmt! Die beiden sind ganz schön hurtig unterwegs. Als ich mich endlich in Hörweite wähne, rufe ich: „Madame! Votre sac!“

Endlich fühlen sie sich angesprochen und drehen sich zu mir um. Die Dame sieht, wie ich ihr die Tasche entgegenrecke und greift verdutzt an die Stelle, an der eigentlich jetzt der Gurt der Tasche auf ihrer Schulter aufliegen sollte. Erleichterung macht sich auf ihrem Gesicht breit. „Thank you!“, ruft sie. Dann fragt sie mich: „Where are you from?“ Meine Antwort lautet: „From Germany“, und daraufhin sagt das Paar lächelnd im Chor: „Dankeschön!“

Aus dieser Begegnung entwickelt sich in den nächsten Tagen ein kleiner Running Gag. Immer, wenn das Paar uns in der Hotelanlage erspäht, hebt sie wortlos kichernd ihre Handtasche in die Höhe. Ihr Mann schaut auf und grinst von einem Ohr zum anderen. Selbst am Pool ziehen sie das durch. Gitti und ich quittieren dies jeweils mit einem warmen Lächeln und ein oder zwei erhobenen Daumen.

Am letzten Abend genießen Gitti und ich noch einmal einen herrlichen Sonnenuntergang. Insgeheim bin ich froh, dass ich meine Assoziationen zum Sonnenuntergang gerade mit niemandem in einer mir fremden Sprache teilen muss. Das wäre sicher ein Fest für das gemeine Vokabelchaos! Fasziniert starren Gitti und ich aufs Meer hinaus. Bewusst nehme ich all meine Entspannung und Erholung aus den letzten Tagen noch einmal ganz tief in mich auf.

Unsere Abreise verläuft problemlos. Das Vokabelchaos bleibt hier, es erwartet neue Gäste.

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