Gianna, Mauro, Gitti und ich gehen spazieren. Gitti und Mauro eilen voraus, ich unterhalte mich mit Gianna. Bald landen wir bei all den Gerüchten, die zurzeit kursieren und schnell sind wir auch bei Verschwörungen und Verschwörungstheorien aller Art angelangt. „Weißt Du,“ überlegt sie „ich kann das alles gar nicht mehr richtig einordnen.“ „Ja, geht mir auch so“, stimme ich ihr zu, „Ich weiß auch nicht mehr, wie ich zwischen einem Mythos und einer ehrlichen Hypothese unterscheiden soll, bei der sich prüfen lässt, was wirklich dran ist.“
„Weißt Du, was mich immer wundert?“, breite ich meine Gedanken aus. „Wenn mich eine Situation überfordert und ich erstmal keine brauchbare Erklärung finde, taucht schwuppdiwupp einer auf, der mir dazu eine Theorie präsentiert. Ganz oft zusammengerührt aus den Zutaten Verschwörung, dubiose Machenschaften und Traum von der Weltherrschaft.“ Ich untermale meine Rede mit ausladenden Armbewegungen.
Gianna weicht ein wenig zur Seite aus, dann bleibt sie stehen, stemmt ihre rechte Hand in die Hüfte und klemmt den linken Daumen unter den Träger ihrer Handtasche. Ich bremse also ebenfalls ab und beschwere mich: „Das macht die Situation ja dann auch nicht besser! Setzen die Verschwörungstheoretiker eigentlich darauf, dass ich mich mit ihrer Erklärung sicherer fühle als ohne sie? Oder ist das nur meine Entschuldigung dafür, dass ich nicht weiß, wie ich handeln soll und wie ich die Situation selbst verbessern kann?“ Bei „meine Entschuldigung“ steche ich meinen Zeigefinger versehentlich so kräftig in meine Jackenmitte, dass ich durch die vielen Kleidungsschichten hindurch deutlich einen meiner Blusenknöpfe spüre. Mir entfleucht ein überraschtes und zugleich völlig übertriebenes „Aua!“
Gianna fragt: „Und wie willst Du das alles nachprüfen? Was ist, wenn ein Teil davon wirklich stimmt?“ „Okay, manchmal können wir ein bisschen recherchieren. Aber am Ende bleibt mir doch nur übrig, die vorgetragenen Gedanken nachzuvollziehen und ein Gefühl dafür zu entwickeln. Und dann beschließe ich, ob ich der Theorie Glauben schenke oder nicht.“ Gianna klemmt ihre Tasche etwas fester unter den Arm. Gitti und Mauro sind uns schon gut hundert Meter voraus. Sie warten auf uns. Ich verspreche Gianna, mich mal näher mit dem Phänomen zu beschäftigen, dann schließen wir zu den beiden auf.
Einige Tage später werfe ich meinen Rechner an und suche im Internet nach „Verschwörung“. Wenig überraschendes Ergebnis: Ein paar Personen verbünden sich heimlich, und meistens geht es dabei um Rache, Freiheit oder Macht. Na prima! Ich finde einige Zusammenstellungen von bereits aufgedeckten Verschwörungen und längere Listen mit noch unbewiesenen Verschwörungstheorien. Ich lese diverse Artikel und mir werden natürlich auch eine Reihe von Romanen und Filmen angeboten. Bald darauf bin ich „lost in cyberspace“… und staune nicht schlecht, was es so alles gibt.
Nach ein paar Stunden und etlichen Abstechern in zum Teil abenteuerlichste Geschichten tauche ich wieder auf und besinne mich darauf, was ich eigentlich hier wollte.
Ich stelle mir die Frage: „Wann beschließe ich, einer Theorie Glauben zu schenken?“, finde aber keine gute Antwort. Neuer Versuch: „Wann zweifle ich eine Theorie an?“ Ich denke eine Weile darüber nach. Dann, nur so zum Spaß, tippe ich genau diese Frage mal in den Browser ein. Als Ergebnis bekomme ich vorwiegend Artikel zur theoretischen Führerscheinprüfung geliefert!?! „Jetzt bloß nicht abbiegen!“, ermahne ich mich selbst, denke weiter über meine Frage nach und sammle diese Ideen:
Ich werde skeptisch, wenn zu viele Leute an einer Verschwörung beteiligt sein sollen. Die müssten ja dann auch alle die Klappe halten, damit die Verschwörung nicht oder wenigstens nicht zu früh auffliegt.
Ich zweifle, wenn alle Argumente und Fakten, die man mir vorträgt, stereotyp und monokausal daherkommen, aufgereiht auf eine einzige Perlenkette. Ein Verschwörer verfolgt vielleicht auch noch ein paar Neben-Interessen, die von seinen Mit-Verschwörern nicht geteilt werden. Das erhöht die Komplexität, hinterlässt Spuren und wirft neue Fragen auf. Bei bisher aufgedeckten Verschwörungen gab es am Schluss eigentlich immer noch einen Sack voller ungeklärter Fakten. Und: Nur Mythen lassen keine Zufälle zu.
Gegenargumente werden manchmal als besonders gerissene Manipulation der Verschwörer deklariert. Auf diese Weise wird aus dem Gegenargument einfach ein zusätzlicher Beweis dafür, dass die Verschwörung existiert. Die schöne Theorie wird damit auch gleich immun gegen alle sonstigen Argumente, die man noch vorbringen könnte, wie praktisch!
Wer von etwas profitiert, muss nicht immer der sein, der es sich ausgedacht hat. Und er muss auch nicht unbedingt mitmachen.
Hm, ich weiß immer noch nicht, was ich glauben soll. Immerhin: Mir ist jetzt klarer, warum ich mit verführerisch schlüssig klingenden Erklärungen doch immer wieder so meine liebe Not habe. Das ist doch auch schon was!
Ich fahre den Rechner wieder runter und trolle mich zu Gitti ins Wohnzimmer. „Haben Gianna und Mauro schon unsere Überraschung bekommen?“, empfängt sie mich. Ich weiß es nicht, bei mir haben sie sich noch nicht gemeldet. „Nicht, dass da irgendwas schiefgelaufen ist!“, zeigt Gitti sich besorgt. Sie beginnt, die Sendung im Netz zu tracken. Nach einer Weile präsentiert sie mir ihr Ergebnis: „Angeblich ist es schon heute Morgen ausgeliefert worden. Ich frag mal nach. Da stimmt doch was nicht.“
„Vielleicht haben die beiden auch einfach nur zu tun?“, gebe ich zu Protokoll, aber Gitti überlegt schon eifrig, was mit dem Päckchen so alles passiert sein könnte. Da hört man ja so viele Geschichten. Und im Netz verbreiten sich Videos, auf denen man sehen kann, wie kreativ manche Paketboten mit den Sendungen so umgehen. Vor Gittis innerem Auge läuft von ganz alleine ein Film ab, vermutlich mit allen Szenen, die wir je selbst erlebt oder von vertrauenswürdigen Leuten erzählt bekommen haben. Dabei kommen die allermeisten Päckchen ganz unspektakulär einfach nur an. Pünktlich, am richtigen Ort, von einer freundlichen Person persönlich überreicht.
„Oder die beiden konnten nicht zuordnen, von wem es kommt“, reißt Gitti sich wieder aus dem inneren Film und beschließt: „Ich frage jetzt nach. Da stimmt definitiv was nicht, das habe ich im Gefühl!“ Mit solchen Gefühlen kennt Gitti sich aus, damit hat sie echt Erfahrung. Sie irrt nur selten, wenn sich so ein Gefühl einstellt, wie dieses jetzt. Trotzdem frage ich nochmal nach: „Was meinst Du denn, was da passiert ist?“ „Was weiß ich, ich frag jetzt erstmal nach!“
Gitti setzt eine WhatsApp ab. Wir malen uns die Situation aus. Der Reihe nach: Wir haben etwas bestellt und dann deren Adresse als Lieferadresse angegeben. Gitti prüft auf der Tracking-Seite des Lieferanten nochmal die Adresse. „Ja, sie stimmt.“ „Zugestellt?“ „Ja, habe ich doch vorhin schon gesagt!“ „Nicht beim Nachbarn oder so? Keine Angabe in dieser Richtung?“ Gitti runzelt mich ungehalten an, sie muss nicht sagen, dass sie das schon geprüft hat.
Jetzt wenden wir uns dem Inhalt zu. „Da ist ja bestimmt kein Lieferschein dabei, sonst wäre ja alles klar“, sagt Gitti. „Ich konnte noch nicht mal eine Grußkarte mitbestellen“, erinnert sie sich. „Na dann.“ Ich bin immer noch zuversichtlich, dass alles in Ordnung ist. „Die rätseln jetzt bestimmt, wer das war!“, vermutet Gitti. „Aber das ist doch jetzt wirklich leicht zu erraten, oder? Da sind doch nur Sachen drauf, die mit ihnen oder mit uns zu tun haben!“, werfe ich ein. „Oder die wissen nicht, was das sein soll“, überlegt Gitti weiter.
Ihr Telefon brummt, die Antwort ist da. Gitti kichert und tippselt etwas zurück. Das Gerät brummt, Gitti kichert und tippselt, bald darauf brummt es wieder. So geht das ein Weilchen hin und her. Mit einem: „Wusste ich es doch, dass da was nicht stimmt!“ reicht sie mir danach das Telefon. Ich überfliege den Text und erfahre, was passiert ist.
Zuerst haben unsere Freunde miteinander geklärt, dass keiner von ihnen etwas bestellt hat. Auch nicht aus Versehen! Und schon gar nicht etwas, das so klappert!! Dann haben sie sich ein Herz gefasst und die Verpackung geöffnet. Sie finden keinen Lieferschein, den Inhalt können sie also auch nicht zurückschicken. Drin sind nur lauter Kärtchen mit Fotos! Von ihnen, echt komisch. Und manche sind doppelt, was soll denn das? Woher haben die denn die Fotos? Wer sind „die“ eigentlich? Aber das sind doch alles private Fotos! Wer hat bloß ihren Account gehackt? Warum schickt man ihnen das jetzt zu? So ganz ohne Worte? Ui, und da sind auch noch ihre Freunde drauf! Na, die werden sich bestimmt freuen, wenn jetzt auch ihre Fotos gehackt wurden! „Cool down“, verordnen sie sich selbst und beschließen, sich erst einmal einen genaueren Überblick zu verschaffen.
Sie sortieren die Kärtchen. Das Ergebnis: alles doppelt, 25 Stück, insgesamt 50 Kärtchen. Sie senden ein Foto davon. Und sie stehen auf dem Schlauch… Dann endlich senden sie eine Frage: „Memory?“
Gitti schickt Emoji-Applaus und die beiden freuen sich.
Es scheint irgendwie tief im Menschen verwurzelt zu sein, schnell mit solchen einfachen Erklärungen und Verschwörungen daher zu kommen. das liegt vielleicht in dem Bestreben, überall Muster zu erkennen.
In der Vergangenheit, war es sicher von Vorteil, den nur teilweise sichtbaren und im Gestrüpp verborgenen Räuber – tierischer oder menschlicher Natur – mit Mustererkennung rechtzeitig zu entdecken. Später wurden Naturphänomene mit göttlichem Handeln erklärt und heute gipfelt es beim Projektmanagement in Überzeugungen wie „… und an dieser Stelle geschieht ein Wunder und wir bringen das Projekt rechtzeitig und mit den geplanten Ressourcen zum Abschluss“ – nicht immer ist es Vorteilhaft, immer gleiche Verhaltensmuster beizubehalten.
Danke für Deine Muster-Gedanken! Übrigens: Mit diesen Wundern im Projektmanagement hatte ich auch immer wieder zu tun.
Zugegeben, die beiden sind tatsächlich wir 😀😀, Mauro und Gianna, eure Freunde, und wir machen uns immer noch schier in die Hosen bei dem Gedanken wie man doch auch eure Fotos stibitzen konnte🤭😂
Das kommt davon wenn man während den Spaziergängen zu viel über Verschwörungen philosophiert……..
Genial beschrieben liebe Miri 👍🏻👍🏻
Wir werden sicher noch sehr, sehr lange darüber lachen können.
Danke dafür, und auch für das sehr interessante Memory! 💕