Gitti und ich feiern einen Jahrestag. Obwohl es weder ein runder noch ein eckiger oder gar schnapsiger Jahrestag ist, wollen wir es krachen lassen.
Um die Begrifflichkeiten kurz zu klären: Ein runder Jahrestag tritt dann auf, wenn sich die Gesamtzahl seines Auftretens ohne Rest durch zehn teilen lässt. Eckig nenne ich ihn, wenn die letzte Ziffer der Gesamtzahl eine fünf ist, und schnapsig finde ich ihn, wenn die Zahl eine Schnapszahl darstellt, also eine Zahl, die man restlos durch elf teilen kann. Was also nicht 10, 11, 15, 20, 22, 25, 30, 33, 35, 40 ist oder dieser Logik weiter folgt, das ist ein normaler Jahrestag.
Gitti und ich erfreuen uns heute an einem von dieser normalen Sorte. Es ist nicht einzusehen, auf den nächsten besonderen Jahrestag noch zwei lange Jahre warten zu sollen, diesbezüglich sind Gitti und ich einer Meinung. Wir könnten noch Primzahljahrestage einführen, aber das brächte uns erst im nächsten Jahr einen Vorteil.
Jeder Tag darf ein besonderer Tag sein, erst recht, wenn er zufällig auf einen Jahrestag fällt! Und so werden wir am heutigen Abend an einem der Tische eines Sternerestaurants Platz nehmen.
Die Vorfreude auf den zu erwartenden kulinarischen Hochgenuss trägt uns wie ein sanftes Wölkchen durch unseren zunächst recht arbeitsreichen Tag. Der öffentliche Nahverkehr bringt uns sodann in die Stadt. Wir sind rechtzeitig unterwegs und schlendern noch ein wenig durch die Fußgängerzone.
Vis-à-vis des Schlosses lassen Gitti und ich uns auf zwei Liegestühlen nieder und nehmen einen Aperitif. Vor dem Schloss lagern ungewöhnlich viele Menschen auf der Wiese. Wir entdecken eine große Leinwand sowie den Hinweis darauf, dass hier gerade das 32. internationale Trickfilm-Festival stattfindet. Die Leinwand verwandelt den Platz in ein kostenloses Open-Air-Kino. Ein liebevoll gestalteter Trickfilm zieht Gitti und mich in seinen Bann. Wir prosten einander zu, lehnen uns in den Liegestühlen zurück und tauchen gerade noch rechtzeitig aus diesem Augenschmaus wieder auf, um zum nahe gelegenen Gourmetrestaurant umzuziehen.
Welch ein toller Auftakt!
Im Restaurant erwarten uns offiziell sechs Gänge. Die Speisekarte verheißt einen spannenden Abend. Jedes Gericht ist ein Kunstwerk, jeder dekorative Klecks beherbergt zugleich ein intensives Geschmackserlebnis. Die Portionen sind ausreichend groß, so dass wir den vielen Geschmackskomponenten ausführlich nachspüren können. Zugleich sind sie ausreichend klein, so dass wir am Ende der Speisenfolge sehr gut gesättigt sind, uns aber nicht übermäßig vollgefressen haben werden.
Wie so oft, verheddere ich mich während unseres anregenden Tischgespräches mal wieder in den Begriffen „obwohl“ und „trotzdem“. Deshalb versuche ich, in meinen Gewohnheiten und Ausdrucksweisen jetzt noch einmal kurz Ordnung zu schaffen. Während einer Pause zwischen den Gängen hilft Gitti mir dabei.
Ich habe bereits sehr viel gegessen. Trotzdem fühlt sich mein Magen erstaunlich gut an. Dieses „trotzdem“ leitet den nächsten Satz ein, der meine Zuhörerin Gitti mit einer unerwarteten Folge überrascht. Es wäre also erwartbar, infolge des vielen Essens das Gefühl zu entwickeln, einen überfüllten Magen zu haben. Was ich an dieser Stelle häufig sage, liest sich so: „Trotzdem ich so viel gegessen habe, fühlt sich mein Magen erstaunlich gut an.“ Gitti gruselt sich und ruft mir genervt, aber hilfreich zu: „Obwohl!!“
Na ja, und dann muss ich halt nochmal ansetzen und sagen: „Obwohl ich so viel gegessen habe, fühlt sich mein Magen erstaunlich gut an.“
Zu meiner großen Freude geht es Gitti mit ihrem eigenen Magen übrigens ebenso.
Trotzdem, so klärt sie mich auf, ist ein Konjunktionaladverb, also ein satzverbindendes Umstandswort. Das Umstandswort beleuchtet die Umstände, unter denen etwas geschieht. Trotzdem leitet immer einen Hauptsatz ein, und zwar in der ganzen Konstruktion meiner Aussage immer den hinteren. Zuerst kommt also, woraus meine Zuhörerin Gitti ihren ersten Schluss zieht. Ich finde das gemein, denn damit provoziere ich geradezu einen Trugschluss und komme danach erst überraschend mit dem Trotz um die Ecke, der alles ändert.
Obwohl ist dagegen eine einfache Konjunktion, und sie nimmt die ganze Überraschung aus dem Satz heraus, bereitet also besser auf das vor, was ich ausdrücken will. Ich kann es ganz nach Belieben vorne und hinten im Satzgefüge platzieren. Ob ich mein gewohntes Geplapper wohl noch auf diese Regeln einstellen kann? Einen Versuch ist es wert. Ich gelobe also Besserung.
Der nächste Gang wird aufgetragen. Gitti und ich fokussieren uns wieder auf den kulinarischen Genuss.
Jeder Gang trägt übrigens einen sehr wohlklingenden Namen. Normalerweise bekommt man beim Servieren kurz und schnell erläutert, was sich alles auf dem Teller befindet. Währenddessen taucht man schon in den Augenschmaus ab, den der Teller bietet, bewundert die filigranen Strukturen und erhascht erste Eindrücke aus den aufsteigenden Duftwölkchen. Der ganze Körper wird auf das bevorstehende Geschmackserlebnis eingestimmt. Leider habe ich meistens nach spätestens drei Sekunden den größten Teil der hilfreichen Erklärung schon wieder vergessen.
Unser Gastgeber kennt das Problem, und er hat sich zu unserer großen Freude etwas einfallen lassen. Auf dem Tisch steht ein kleiner Ständer, und darin befinden sich Kärtchen. Jedes der Kärtchen trägt den Titel eines Ganges und eine Beschreibung dessen, was sich dahinter verbirgt. Das gilt für alle offiziellen Gänge, aber auch für die raffinierten Auftakt- und Zwischengerichte, also das Amuse Bouche, die Einstimmung, die Brotauswahl nebst sie begleitender Aufstriche, das Pre-Dessert und die Petits Fours, die später zum Kaffee gereicht werden. Insgesamt beschreiben also elf Kärtchen alle Einheiten, die man uns heute serviert. Mit dieser Hilfestellung können wir den geheimnisvollen Aromen viel besser auf die Spur kommen, als wenn uns nur die verbale Beschreibung vorgetragen werden würde.
Ich hoffe, unser Gastgeber stellt diesen Service nicht sofort wieder ein, denn Gitti erhört zu vorgerückter Stunde meine inständige Bitte, die Kärtchen vor Begleichung unserer Rechnung ihrer Handtasche zu überantworten.
Auf diese Weise kann ich jetzt noch berichten, dass unser Dessert eine wunderbare Frühlingspoesie darstellte. Ein Törtchen aus Frischkäse und Weizengras, angerichtet auf karamellisiertem Quinoa und Pekanüssen, überrascht uns mit einem Kern aus einer speziellen Erdbeere und einem tollen Aceto. Das Topping beherbergt unter anderem Physalis, Erdbeersorbet und Erdbeerkaviar. Wir finden Mokka-Nuggets. Das Topping thront auf einer Schokoladenhippe. Alles wird von einer Sauce umspielt, die zusätzlich zu den anderen Zutaten sogar noch Sanddorn und Passionsfrucht enthält.
Wow!
Ich trotze dem Obwohl, mit dem ich immer noch ein wenig auf Kriegsfuß stehe, proste Gitti zum Abschluss noch einmal zu und proklamiere: “Obwohl die Grammatik mit aller Macht meinen Trotz provoziert, stoße ich gerne noch einmal mit Dir auf diesen wunderbaren Abend an. Trotz der reichhaltigen Speisenfolge fühle ich mich ausgezeichnet!“
Gitti kichert. Ihr geht es ebenfalls prima.