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Mein roter Faden

Wo isser denn jetzt schon wieder?!? Ich habe den Faden verloren, den langen roten Faden! Ich wühle in meiner Schublade. Da, ganz hinten in der Ecke, da hat er sich versteckt! Ich ziehe ihn heraus, strahle ihn an und lehne mich zufrieden im Stuhl zurück. Gedankenverloren nestle ich ein wenig an dem Faden herum.

Mit meinem roten Faden will ich eigentlich heute ein Geschenk verzieren, aber zuerst möchte ich noch ein bisschen hier sitzen und meinen Gedanken nachhängen. Fäden …

Mir fällt ein: In Hannover gibt es einen roten Faden. Dort handelt es sich um eine rote Linie, die das Pflaster der Stadt ziert und den geneigten Besucher zu einem Rundgang einlädt. Dieser am Boden liegende rote Faden führt zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt und beweist, dass Hannover alles andere als eine langweilige Stadt ist!

In Texten brauche ich einen anderen roten Faden. Ohne den wäre ich völlig verloren! Dieser Faden sorgt für den thematischen Zusammenhalt der Sätze, die, miteinander zu einem Text verwoben, vor meine Augen geraten. Ohne solch einen Faden ist der Sinn eines Textes nicht zu erkennen. Dann rate ich, beginne vielleicht, dem Autor geheimnisvolle Absichten zu unterstellen, und am Ende befinde mich mit meiner Interpretation wahrscheinlich auf Abwegen. Oder ich werfe den Text einfach hin, wende mich ab und erfahre nie, was er mir hätte sagen können und was ich so verpasst habe.

In der griechischen Mythologie gibt es noch einen Faden, nämlich den der Ariadne. Wie war das nochmal mit dem Ariadne-Faden? Ich raffe mich auf, blättere in alten Büchern herum, tauche ein, hangle mich durch und versuche, weder den Faden noch den Überblick zu verlieren.

Ariadne ist die Tochter des Minos. Dieser Minos entstammt einer Affäre zwischen Zeus und Europa, wohnt auf Kreta und ist dort König. Prinzessin Ariadne verknallt sich in Theseus, und sie schenkt ihm diesen Faden. Ob der Faden rot ist, weiß ich nicht. Mit meinem eigenen roten Faden spiele ich derweil weiter herum und beginne, ihn um meine Finger zu wickeln. Theseus ist übrigens der, der auch in Shakespeares Sommernachtstraum vorkommt, also der spätere Herrscher von Athen! Und wozu schenkt Ariadne ihm ausgerechnet einen Faden? Zu Recht! Quatsch – natürlich zu dem Zweck, dass Theseus aus dem Labyrinth wieder herausfindet, in dem der Minotaurus gefangen ist. Dieser Minotaurus ist eine Kreuzung aus Mensch und Stier, und pikanterweise ist die Frau von Minos die Mutter des Minotaurus. Also handelt es sich beim Minotaurus wohl um eine Art Halbbruder der Ariadne.

Ich verirre mich ein wenig in der Hintergrundstory und stelle empört fest, dass König Minos vor allem brutal und rachsüchtig ist. Seit dem erfolgreichen Rachefeldzug gegen die Athener müssen die sogar alle paar Jahre junge Männer und Frauen in das Labyrinth schicken. Die Begegnung mit dem Minotaurus überleben die jungen Leute natürlich nicht. Pfui! Theseus, Sohn des aktuellen Athener Herrschers, will dem endlich ein Ende bereiten. Er kommt nach Kreta, geht in das Labyrinth und tötet den Minotaurus. Vorher schenkt die liebe Ariadne ihm noch den Faden, den er ab dem Betreten des Labyrinths abwickeln soll, um dann nach dem Erlegen des Minotaurus am Faden entlang den Weg aus dem Labyrinth zu finden. Der Plan geht auf und Theseus nimmt Ariadne auch gleich mit nach Athen.

Minos rächt sich daraufhin an dem Architekten des Labyrinths, indem er ihn und seinen Sohn in genau diesem Labyrinth einsperren lässt. Bei den beiden handelt es sich übrigens um Dädalus und Ikarus. Sie fliehen kurzerhand, schließlich ist Dädalus der Architekt und kennt sich mit dem Ding aus. Für die Flucht von der Insel Kreta baut Dädalus dann die berühmten Flügel. Er selbst entkommt damit, während sein Sohn Ikarus mit seinen Flügeln der Sonne zu nah kommt, woraufhin die Flügel nicht mehr flugfähig sind und er mit ihnen ins Meer stürzt. Aber diesen Faden mag ich jetzt nicht länger verfolgen!

Inzwischen habe ich die Finger meiner beiden Hände mit dem realen roten Faden so eingewickelt, dass ich Mühe habe, mich wieder zu befreien. So ein Mist! Wie kann man sich nur so blöd verknoten!?! Wäre ich der große Houdini, fiele mir die Entfesselung sicher leichter! Obwohl – der kannte sich mit seinen eigenen Tricks halt aus, der hat bestimmt nicht einfach nur planlos und in Gedanken versunken mit roten Fäden gespielt.

Endlich befreit, suche ich nun in meinem Hirn nach dem Grund für mein Fadenspiel. Was wollte ich eigentlich mit dem Ding? Es dauert ein Weilchen, dann fällt mein Blick auf das Geschenk, das ich zu verzieren trachtete. Mir kommen Zweifel. Soll ich das wirklich tun? Setze ich des Geschenks Empfängerin nicht unnötig großen Gefahren aus? Ach Quatsch, sie agiert bestimmt überlegter als ich. Also los!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    Danke für die amüsante Story!
    Eine alte Redewendung mit sehr viel Wahrheitsgehalt.
    „Und dann wollte ich – … äh, ich hab den Faden verloren.“ Das passiert uns wohl allen mal 🤭 – und dann wird es ernst 😬……

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