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Unter freiem Himmel

Es ist Juli. Traditionell ist das hierzulande der wärmste Monat des Jahres. Laut Statistik ist der Juli zugleich einer der niederschlagsreichsten Monate. Die Wetterfrösche erklären das damit, dass warme Luft deutlich mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann, als es kalte Luft vermag. Wo viel drin ist, kann auch viel rauskommen. Im Juli gibt es deshalb immer wieder kräftige Regenfälle.

Dunkel erinnere ich mich an ein Zustandsdiagramm aus der Thermodynamik, auf dem man gut sehen kann, bei welchem Druck und welcher Temperatur Wasser fest, flüssig oder gasförmig ist und in welchen Bereichen wir es mit Nassdampf zu tun haben. Festes Wasser ist natürlich Eis. Das Diagramm sieht aus wie ein Schnittmusterbogen. Man kann die dollsten Sachen daraus ableiten und es zu abenteuerlichsten Berechnungen heranziehen.

Meine persönlichen Erwartungen an den Juli zeigen sich von solchen Erkenntnissen selbstverständlich völlig unbeeindruckt. Ich wünsche mir schönes Sommerwetter. Ich hätte es gerne warm, aber nicht zu heiß. Der Juli soll mir laue Sommerabende schenken, an denen ich mich unter freiem Himmel schönen Erlebnissen hingeben kann. Natürlich möchte ich dabei sattgrüne Wiesen sehen. Dass dazu auch Regen gehört, ist mir klar. Ein gutes Zeitfenster, in dem wir alle zusammen klaglos genau diesen Regen akzeptieren, gibt es jedoch nicht. Wacker rede ich mir also jeden Regenguss schön, in den ich gerate – so gut ich es eben vermag.

Am Freitag werden wir im Biergarten ein bisschen nass. Bereitwillig rücken alle zusammen und gucken den dunklen Wolken dabei zu, wie sie zuerst auf uns zu und dann über uns hinweg ziehen. Wind, Blitz und Donner sind moderat, der zugehörige Regenguss eilt alsbald weiter. Zur Belohnung gibt es für uns einen schönen Regenbogen zu bestaunen. In einer Regenpause laufen Gitti und ich schnell nach Hause.

Tags drauf haben wir großes Glück mit dem Wetter. Bereits im November hatte Gitti für ihre Cousine, deren Gatten und uns Karten für ein Klassik-Open-Air mit Feuerwerk am Seeschloss Monrepos gebucht. Alle zusammen freuen wir uns also schon mehr als ein halbes Jahr lang auf diesen Abend. Auf dem schönen Gelände finden wir vor dem großen Konzert ausreichend Gelegenheit, uns mit kühlen Getränken auf Bierbänken niederzulassen. Es gibt auch ein reichhaltiges Angebot an Speisen. Für Selbstversorger steht sogar eine Picknickzone zur Verfügung. Das schöne kleine Seeschloss bietet eine wunderbare Kulisse. Große Kastanien- und Lindenbäume säumen den Zuschauerbereich. Etwas mehr als 7000 Zuschauer haben den Weg hierher gefunden. Dennoch entsteht zu keiner Zeit großes Gedränge. Wir haben immer etwas Platz um die Hüften. Mit großem Kopfnicken versichern wir uns gegenseitig, wie schön wir es hier finden.

Das Publikum ist bunt gemischt. Vom Silberrücken bis zum kleinen Kind sind alle Generationen vertreten. Bei der Wahl ihrer Kleidung haben manche Besucher auf festliche Sommerroben gesetzt, andere auf kurze Strandkleidung, und die meisten Menschen auf den LBA, also den leichten Bieranzug, bestehend aus bequemen Jeans und Shirts. Dazwischen ist alles zu finden, was die Kleiderschränke der Leute so hergeben. Erfreulicherweise nimmt niemand Anstoß daran, so kommt es mir jedenfalls vor. Hier sollte sich kein Gast over- oder underdressed fühlen.

Nachdem wir uns am kühlen Nass aus dem Zapfhahn gelabt haben, wird es nun Zeit, die gebuchten Plätze einzunehmen. Das Konzert beginnt. Den Anfang macht ein Schulorchester. Ich muss gestehen, dass unsere Erwartungen an diesen Teil der Veranstaltung nicht besonders hoch gesteckt sind. Umso mehr freuen wir uns über die tollen Nachwuchstalente, die uns mit ihrem Können und ihrer Ausdruckskraft überraschen. Gitti, ihre Verwandten und ich strahlen über alle Backen.

Nach einer ersten Pause erwartet uns das Orchester der Schlossfestspiele, das heute unter der Leitung der Dirigentin Alondra de la Parra spielt. Bereits beim ersten Takt springt der berühmte Funke über, die Musik zieht uns in einen Bann der Begeisterung. Was für ein Erlebnis, was für eine tolle Dirigentin!

Während der zweiten Pause nutzen wir die Gelegenheit, uns noch einmal zu erfrischen und uns auszutauschen. Dann kehren wir zu unseren Plätzen zurück. Wir sitzen in der zweiten Reihe eines der hinteren Zuschauerblöcke. Der Gang zwischen unserem und dem davor liegenden Block wird zum Laufsteg. In der Reihe vor uns haben zwei offensichtlich miteinander befreundete Paare Platz genommen. Eines der beiden Paare thront auf Sitzkissen, die sie der Aufschrift nach zu urteilen, bei einem Besuch der Arena in Verona erstanden haben. Während die beiden Männer in leichter Freizeitkleidung ihre Frauen umrahmen, haben die sich in festlichere Gewänder geworfen. Tuschelnd sitzen sie nun nebeneinander und beobachten das bunte Treiben auf dem Laufsteg direkt vor ihnen.

Betont lässig stolziert ein junger Mann mit seiner Freundin von links nach rechts. Offensichtlich kann er sein Glück kaum fassen, dieses schöne Mädchen für sich begeistert zu haben. Es folgen ein paar klapprige Silberrücken. Einer von ihnen schwenkt sein Sektglas im Gehen etwas zu stark von hinten noch vorne. Innerhalb weniger Meter verliert das Glas einen erheblichen Teil seiner Füllung. Anmutig beweist eine ältere Dame indes, wie stilvoll und elegant sie immer noch dahinzuschweben weiß. Sie erntet respektvolles Kopfnicken bei den Tuschlerinnen vor mir. Schnellen und zugleich schweren Schrittes bahnen sich zwei Männer in Strandhosen und Muscle Shirts ihren Weg. Der hölzerne Boden bebt unter ihnen.

Jetzt defiliert eine Frau in einem hautengen neonorangenen Kleid und farblich dazu passenden Stöckelschuhen vorbei. Stolz aufgerichtet wirft sie sich in die Brust. Kaum an uns vorbei, strauchelt sie. Den kleinen gemeinen Absatz zwischen zwei der Bodenbretter hat sie leider nicht gesehen. Überrascht entgleisen ihre Gesichtszüge für einen winzig kleinen Moment. Dann rudert sie kurz mit den Armen und fängt sich. Nach dieser fast artistischen Slapstick-Einlage geht sie eine Spur vorsichtiger weiter. Während ich ihr am liebsten applaudieren möchte, fällt den Damen vor mir nur ein äußert hämisches Lachen ein. Fortan tituliere ich die beiden insgeheim als blöde Schnepfen.

Bald nach dieser Einlage beginnt der letzte Teil des Programms. Es ist bereits dunkel. Schloss und Bühne sind stimmungsvoll ausgeleuchtet. Die hohen Baumwipfel werden angestrahlt und sehen wie große Blüten aus. Wir lauschen gespannt der schönen Musik. Die Dirigentin nimmt das Orchester und uns mit auf eine furiose Reise durch verschiedene Stücke. Sie lädt uns ein, mit ihr zu tanzen. Das Ende eines der Stücke geht mit einem lauten Knall einher. Am Himmel öffnet sich eine riesige rote Blume.

Die folgenden Stücke werden von einem großen Feuerwerk begleitet. Hinter dem Schloss steigen Raketen auf, die Bühne wird von sprühenden Funken umrahmt. Vom Himmel regnen funkelnde Lichter. Welch ein Finale! Unter freiem Himmel endet unser schönes Erlebnis in der lauen Sommernacht. Als Gitti und ich so gegen ein Uhr in der Nacht glücklich ins Bett sinken, klingen die Bilder und Töne noch lange in uns nach und begleiten uns in unsere Träume.

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