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Vom Gruseln

Wieso beschäftige ich mich eigentlich immer wieder mit Geschichten, die mich dann doch das Gruseln lehren? Bin ich blöd?!?

Was liest Du gerne? Krimis? Was guckst Du im Fernsehen an? Krimis? Oder noch schlimmer: Nachrichten?

Also ich kann alle diese Fragen mit Ja beantworten.

Das Gruseln ist eine Mischung aus Furcht, Erschrecken und Abscheu. Bereits als Kind wurde ich damit konfrontiert. Schließlich gab es Märchen. Und die sind, was den Gruselfaktor angeht, kaum zu überbieten!

Das klassische Märchen beleuchtet Gesellschafts- und Familienstrukturen, Machtverhältnisse und vor allem den Kampf des Guten gegen das Böse. Zu meiner Beruhigung siegt meistens das Gute.

Die Strafen für die Bösen fallen jedoch für meinen Geschmack ganz oft viel zu brutal aus. Bei Aschenputtel zum Beispiel picken die Tauben den bösen Schwestern am Schluss die Augen aus. So etwas finde ich abscheulich. Welch ein Attentat auf meine kleine Kinderseele! Da hätte es doch sicher andere Möglichkeiten gegeben. Möglichkeiten, die nicht nur auf Rache setzen. Vielleicht wären dann die Schwestern, die einst das Böse verkörpert haben, zu Menschen geworden, die sich aus voller Überzeugung heraus für das Gute einsetzen. So etwas hätte mich überzeugt!

Reine Rache macht den Rächer zum neuen Täter und löst damit nur weitere Racheakte aus. Was kann man damit also erreichen?

Ich bin übrigens nicht gegen Strafen. Eine Strafandrohung dient der Abschreckung. Nicht jeder lässt sich abschrecken, und zwar unabhängig von der Art und Höhe der Strafe. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass jemand während der Verübung eines Verbrechens nicht davon ausgeht, dass er erwischt oder je zur Rechenschaft gezogen wird. Zu diesem Zeitpunkt hat er mit dem Verüben so viel zu tun, dass für Konsequenzanalysen oder die Suche nach kreativen, vertretbaren und zugleich straffreien Alternativen kein Raum mehr verfügbar ist. Ideen hierfür müssen also gelegt sein, bevor es zur Tat kommt!

Genau da setzen Märchen, Krimis und Gruselgeschichten aller Art an. Meistens sitze ich nämlich in einem gut geschützten Raum, wenn ich mich mit gruseligen Geschichten auseinandersetze. Zum Beispiel zu Hause. Meine äußere Situation ist sicher. Ich kann mich gefahrlos auf die Auseinandersetzung mit dem Thema einlassen. Meine Kreativität wird angeregt. Mit ein bisschen Glück leite ich Ideen ab, wie ich mich verhalten könnte, wenn mir so etwas mal im realen Leben begegnen sollte. Ich lerne, wann es besser wäre, sich zu verstecken oder zu flüchten und wann ich zum Gegenangriff übergehen sollte. Mit ganz viel Glück lerne ich sogar, wie ich es vermeiden kann, in richtig gefährliche Situationen zu geraten.

Für Kinder ist es wichtig, Gefahren einschätzen zu können, bevor sie darin umkommen. Märchen können da helfen. Es müssen ja nicht immer die alten, besonders brutalen Märchen sein, die mich einst das Gruseln lehrten!

Bei Märchen geht es oft wundersam zu. Das ist prima. Zauber und Magie halten her, wenn die physikalischen Gesetze der Geschichte nur im Weg herumstehen würden. Außerdem identifiziere ich mich natürlich gerne mit einer Figur, die fantastische Fähigkeiten einsetzen kann, um das zu erreichen, was ich an ihrer Stelle auch erreichen wollen würde.

Da fällt mir ein, was wir neulich im Park erlebten:

Gitti, Tina und ich spazieren umher. Wir begegnen zwei scherenschnittartigen Skulpturen. Es sind Rotkäppchen und der böse Wolf. Im Verhältnis zum Rotkäppchen ist der Wolf ein bisschen klein geraten, findet Gitti. Ihr Argument: Da passen das Rotkäppchen und die alte Großmutter niemals rein, schon gar nicht am Stück!

Dass der Wolf zuerst die Großmutter und dann auch noch das Rotkäppchen verschlang, ist bekannt. Auch der wundersame Dialog zwischen dem mutigen, aber doch etwas zu arglosen Rotkäppchen und dem hinterhältigen Wolf gehört zu unser aller Kindheitserinnerung. Große Augen, große Ohren und auch einen großen Mund weiß der böse Wolf gegenüber dem Rotkäppchen zu rechtfertigen, als ob er tatsächlich die Großmutter wäre.

Ich mache mir Gedanken darüber, wie alt Rotkäppchen eigentlich gewesen sein muss. Gitti und Tina unterbreiten unterschiedliche Vorschläge. Vermutlich ist Rotkäppchen immer so alt wie das Kind, das die Geschichte gerade hört oder liest – schon alleine wegen der Sache mit der Identifikationsfigur!

Gitti wundert sich heute noch am meisten darüber, dass Großmutter und Rotkäppchen dann völlig unversehrt aus dem Bauch des Wolfes befreit werden konnten. Am Stück! Und ausgerechnet von einem Jäger, der dazu den Bauch des Wolfes aufschlitzt, während dieser im Bett der Großmutter ein Verdauungsschläfchen hält!! Und völlig irre finden wir auch, dass sie dem Wolf dann Steine in den Bauch legen, damit er von der Befreiungsaktion nichts bemerkt. Wobei – eigentlich haben die Steine durch ihr Gewicht nur verhindert, dass der Wolf nach dem Aufwachen erneut Jagd auf Menschen machen kann. Oder ging es darum, ihn an der Flucht zu hindern? Und was wäre mit dem Wolf geschehen, wenn er nicht an den Folgen der Steine im Bauch gestorben wäre? Wir können uns alle nicht mehr ganz so genau an die Geschichte erinnern.

Mit unseren Fragen im Kopf bleiben wir ratlos stehen.

Tina fängt sich als erste. Sie führt an, dass eines auf jeden Fall sicher ist: Die Großmutter ist immer alt.

Ups! Das kippt irgendwann! Großmütter sind heutzutage alle so jung! Findest Du nicht auch?

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mauro und Gianna

    Eine sehr lehrreiche Story!
    Das mit dem Gruseln ist so eine Sache. Auch wenn die Märchen oft sehr gruselig und makaber sind, dennoch sollen sie den Kindern unsere vielfältige Welt vermitteln,
    die nicht nur aus guten Menschen besteht!

    Das Rotkäppchen Märchen wird inzwischen tatsächlich in sehr vielen Varianten erzählt und geht unterschiedlich aus. Neue, moderne Inhalte, in denen das Rotkäppchen
    und die Oma den Wolf überlisten, sollen den Kindern
    besondere Werte vermitteln wie Achtsamkeit, Einfühlungsvermögen, Hilfsbereitschaft und die Fähigkeit das Gute von dem Bösen zu unterscheiden.

    Gruseln gehört also zum Leben und dient uns als ein besonderer Schutz!

    Danke für deine Story!

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