„Wer schön sein will, muss leiden!“, schallt es durch den Vorhang der Umkleide, in der ich stehe und in der ich mich gerade in eine Hose quetsche. Zum Glück ist das nicht die Stimme von Gitti. Die Stimme kenne ich gar nicht, stelle ich beim in mich Hineinhorchen fest. Das wird doch nicht etwa eine von diesen übergriffigen Verkäuferinnen sein? Oder gibt es da noch eine Kabine neben mir? Richtet sich die Botschaft gar nicht an mich? Mist, ich bin verunsichert, und außerdem bekomme ich gleich keine Luft mehr.
„Wer hat diesen körpernah geschnittenen Quatsch bloß designt?“, schimpfe ich vor mich hin. „Da kann man ja maximal drin stehen!“ Gitti steckt den Kopf durch den Vorhang und fragt: „Was ist los?“ „Jetzt ist sie zu.“, antworte ich mit dünner Stimme und ergänze mit flehendem Blick ein kleinlautes „Ich möchte nach Hause.“
Gitti verschwindet wieder zwischen den feil gebotenen Waren. Wenn es mir vor Ladenschluss gelingen sollte, mich aus dem Stückchen Stoff unfallfrei wieder herauszuschälen, muss ich dringend herausfinden, was der nächste Trend sein wird. Vielleicht kann ich den aktuellen Trend dann einfach auslassen und meinen Einkauf verschieben. Ich hoffe auf weite, bequeme und lässige Looks, die meinen Körper weich umspülen und trotzdem einen schlanken Fuß machen. Ein cooler Hingucker darf es ruhig sein, aber es muss auch zu mir passen – ob es sowas überhaupt gibt?
Gitti kommt mit einem größeren Exemplar wieder zu mir: „Probier das mal an.“ Ich kämpfe mich also aus der einen Hose raus, hole tief Luft, atme ganz tief wieder aus und steige dann in die neue Hose. Ah, viel besser! Die ist überhaupt viel besser geschnitten. Aber die Beine sind zu kurz, also nicht meine, sondern die von der Hose. Es dauert noch eine ganze Weile, bis wir finden, was mir steht, was mir passt, was das Zeug zu meiner neuen Lieblingshose haben könnte.
„Die aktuelle Mode ist echt schlimm.“, beschwere ich mich, als wir anschließend durch die Fußgängerzone schlendern. „Stimmt, aber was meinst Du konkret?“, will Gitti wissen. „Ich habe mich ja schon daran gewöhnt, dass sich der Preis reziprok zur Stoffmenge verhält, also: je weniger Stoff, desto teurer. Aber mal im Ernst, wer kann denn das tragen, was da in den Läden angeboten wird?“ Gitti schmunzelt, gibt mir Recht, aber auch zu bedenken: „Wenn das keiner kaufen würde, dann würde es auch schnell nicht mehr angeboten werden.“
Da ist was dran. Ich sehe mich um. Scheinbar gibt es ganz schön viele Leute, die das Zeug bereits gekauft haben. „Aber, wer redet denen ein, dass sie damit gut aussehen?“, frage ich verzweifelt. „Oder habe ich jetzt plötzlich einen schlechten Geschmack?“ Leise und für mich denke ich darüber nach, ob ich einfach nur langsam alt werde. Soll ich das nächste Mal im Laden einfach fragen, ob sie das auch in schön haben? Nein, das kann ich den Verkäuferinnen nicht antun, die können ja meistens auch nichts für ihre Waren.
Wir kommen an einem Schaufenster vorbei, es wirft unser Spiegelbild zurück. Abrupt bleibe ich stehen. Gitti erschrickt: „Was ist denn jetzt schon wieder?“ „Guck doch mal!“ „Was?“ „Na wir! Eigentlich sehen wir doch ganz pfiffig aus, oder?“ „Ja, und was willst Du mir damit sagen?“ In der Folge schwalle ich sie mit einer Zusammenfassung der Modetrends vergangener Jahrzehnte zu, an die ich mich noch erinnere. Gemeinsam lachen wir über unsere eigenen Geschmacksverirrungen. Manches findet man zum Glück erst in der Rückschau furchtbar, an anderes haben wir uns mit der Zeit einfach gewöhnt.
„Aber Saggy Pants habe ich nie gemocht und auch nie getragen, und das war vielleicht auch besser so!“, stelle ich klar. „Was für Dinger?!?“ Gitti guckt mich an, als ob ich Schuld an diesen blöden Vokabeln wäre. „Die von den Hip-Hoppern.“ Ihre Zornesfalte verschwindet wieder: „Meinst Du die, deren Schritt irgendwo zwischen den Knien hängt?“ „Ja. Die heißen doch so, oder? Bei den Dingern habe ich mich immer gefragt, von welchem Körperteil sie eigentlich am Herunterfallen gehindert werden.“ Gitti kichert in sich hinein, vermutlich stellt sie sich vor, wie ich in solchen Klamotten aussähe und ob ich mich damit auch ins Büro trauen würde.
„Und diese Shaping Jeans finde ich auch ganz furchtbar!“ Gitti guckt mich fragend an: „Die was? Hast Du irgendeinen einen Kurs gemacht?“ „Shaping Jeans. Sowas wie die da vorne.“ „Wo?“ „Da!“ Ich wedle mit dem Arm in Richtung eines Mädchens, das sich gerade die Nieren verkühlt und bei der ich mich frage, wie sie in das Ding überhaupt hereingekommen ist, das sich da um Beine und Po spannt. Gitti fragt nach: „Wie heißen die?“ „Shaping Jeans. Die sollen Beine und Po modellieren, also shapen, schön formen, von shape, wie Form. Die müssen hoch elastisch sein. Und weil all das vorhandene Körpergewebe ja dann auch irgendwo hin muss, quillt es halt oben aus dem Höschen raus. Das kann sich ja nicht in Luft auflösen, also das Gewebe.“
Ich erinnere mich an die Szene vorhin in der Umkleidekabine und frage mich, wieviel Vorlauf man eigentlich für den Toilettengang braucht, wenn man eine Shaping Jeans trägt.
Gitti reißt mich aus dem Gedanken und beschwert sich über die aktuellen Farben: „Guck Dich mal um, die sehen alle total langweilig aus, nur triste Farben. Das macht einen sofort depressiv.“ Es stimmt. Wir bemerken eine Gruppe Rentner. „Und die da,“ prognostiziert Gitti, „die verschwimmen zusehends mit dem Hintergrund: alles in beige, ich krieg die Krise! Ich will auf keinen Fall in beige sterben!“ „Du stirbst jetzt erstmal gar nicht, abgemacht?“ „Na gut, dann eben nicht!“
Wir gucken uns noch eine Weile um und sind uns einig: Man muss nicht jeden Quatsch mitmachen! Insgeheim bin ich jetzt doch ein wenig dankbar für all die Mode-Verbrechen – worüber könnten wir sonst so schön lästern?
Ich glaube daß es richtig war, „reziprok“ zu erklären, aber es ist schade, daß es wohl notwendig ist.
Zum „wenn es keinem gefällt, kauft es keiner“ – auch da geht der Trend dahin, daß es nur „angesagt“ sein muss – wer immer da das Sagen hat – und schon wird es gekauft. Manchmal glaube ich, die Designer haben einen internen Wettbewerb, der die Leute am unpassendsten und am dämlichsten aussehen lässt und trotzdem damit durchkommt.
Shaping Jeans & Co sind vermutlich einer der Gründe, warum vor den Damen WC die Schlange länger ist. Da ich mich an der anderen Tür anstelle, kann ich das aber nicht beurteilen.
Was die Farblosigkeit im alter angeht, hast Du absolut Recht, aber da legen viele Leute wesentlich mehr Wert auf ihre Kleidung als ich…
Hi hi…. das könnten direkt wir beide gewesen sein.
Zum Glück konnte ich ab und zu die passende Hose für mich in Mauro‘s Schrank finden 🤭😂, und jetzt ist die Mode wieder ganz weit und breit und wir passen bequem hinein! Nur die Hosenbeine sind immer noch kurz!
Danke für die tolle Story aus dem Alltag 🙏🏻🙏🏻