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Soziallegastheniker

Fest in eine kuschlige Decke eingemuckelt verbringe ich Zeit auf dem Sofa. Sie dient der Muße. Körperlich wie geistig entspanne ich und pflege mein Seelenheil. Scheinbar mache ich nichts, wenigstens nichts, was von fremden Interessen bestimmt wird.

Nach einer Weile zücke ich ein Rätselheft und einen Stift. Ganz versunken fülle ich Buchstaben in Kästchen, setze Silben zu Wörtern zusammen, lasse mich von den gedruckten Beschreibungen und meinen Assoziationen leiten, entdecke Lösungssprüche und freue mich, wenn ich Rätsel finde, bei denen man dem Sinn erst noch auf die Spur kommen muss. Dies hier ist gerade solch eins. Bei Vierzehn senkrecht soll ich folgendes erraten: „Das Brutale wird zulässig, wenn man es umsortiert.“

Welch eine interessante Beschreibung! Der Hinweis „umsortiert“ bringt mich bald zur Lösung. Ich trage „erlaubt“ in die Kästchen ein und bin sehr zufrieden mit mir. Sogleich begeben sich meine Gedanken auf Reisen. Das Brutale wird also erlaubt, nur weil ich gerade die Buchstaben umsortiert habe? Autsch!

Auf der Stelle fühle ich mich schuldig, dabei sitze ich doch ganz brav und unscheinbar hier herum und tue keiner Fliege etwas zu Leide. Ich bin einfach zu sensibel, ich olle Pazifistin. Zum Glück weiß die Welt da draußen nicht, was ich hier drinnen mit den Buchstaben angerichtet habe. Ich verlasse mich darauf, dass der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings größere Auswirkungen auf die Welt hat als mein Eintrag ins kleine Rätselheft auf meinem Schoß. Ich mag nicht für alles verantwortlich zeichnen!

Das mit dem Schmetterlingseffekt kommt übrigens aus der nichtlinearen Dynamik. Anfang der siebziger Jahre hat ein Meteorologe mal in einer Rede die Frage beleuchtet, ob der in Brasilien ausgeführte Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado in Texas auslösen kann. Auf der Suche nach einem mathematischen Modell, mit dessen Hilfe sich das Wetter zuverlässig vorhersagen lässt hatte er drei nichtlineare Differentialgleichungen miteinander gekoppelt, seine Anfangsbedingungen mit Zahlen gefüttert und die Ergebnisse seiner Berechnungen im dreidimensionalen Raum visualisiert. Die gleiche Rechnung, durchgeführt mit geringfügig anderen Anfangswerten, die sich nur in irgendwelchen Nachkommastellen von den früheren unterschieden, führte zu völlig anderen Ergebnissen. Tja, kleine Ursache, größte Wirkung. Heraus kamen total verschiedene Vorhersagen. Bei der Visualisierung der möglichen Rechenergebnisse entstand ein Gebilde, das aussah, wie ein Schmetterling. Der Unterschied in den Anfangswerten war übrigens so klein, dass er dem berühmten Flügelschlag des Schmetterlings im allgemeinen Wettergeschehen gleichkam – welch ein schönes Bild!

Gut, das Wetter lässt sich also nur begrenzt vorhersagen. Unsere Wetterfrösche liefern heute schon erstaunlich gute Prognosen, finde ich. Das war vor wenigen Jahren noch ganz anders. Da habe ich lieber nochmal aus dem Fenster geguckt, bevor ich das Haus verließ. Gestern habe ich mich dabei ertappt, dass ich die Wetterapp gefragt habe, ob ich für den kurzen Weg eine Jacke brauchen werde. Ups.

Sind langfristige Auswirkungen eigentlich grundsätzlich vorhersehbar? Diese Frage hat schon Heraklit, Aristoteles und viele andere Philosophen umgetrieben. Wenn die Welt rein deterministisch funktioniert, dann hängt alles nur von den Vorbedingungen ab, und der Rest nimmt anschließend komplett vorherbestimmt seinen Lauf. In diesem Fall wäre der kleine Flügelschlag eine der Vorbedingungen für das spätere Auftreten des Tornados, und der wäre damit unausweichlich davon abhängig, ob der Schmetterling genau diesen Flügelschlag ausführt. Nicht auszudenken also, welche Folgen dann mein kleiner Eintrag ins Kreuzworträtselheft hätte! In dieser Sekunde finde ich die mögliche Existenz des Zufalls und des freien Willens doch sehr attraktiv! Na ja, man könnte sonst sogar annehmen, dass es schon vorherbestimmt war, dass ich gerade eben dieses Wort ins Rätselheft geschrieben habe – und das geht mir entschieden zu weit, das will ich mir nicht vorstellen müssen!!!

Ich starre mein Rätselheft an. „Das Brutale wird erlaubt.“ Dieser Satz verhakt sich in meinen Hirnwindungen. Auch das will ich nicht haben! Mir stehen alle Haare zu Berge. Brutalität verabscheue ich nämlich zutiefst. Das ist einfach nichts für mich, und die Welt wäre ohne Brutalität vielleicht auch eine bessere. Das hoffe ich jedenfalls.

Ein Anfang für eine bessere Welt wäre ja schon gemacht, wenn sich alle Leute den Luxus eines sozial verträglichen Verhaltens leisteten, und zwar immer. Aber was ist schon sozial verträglich? Der Teufel liegt im Detail, und darin hat er es sich gemütlich gemacht. Was sozial ist, dient der Gemeinschaft. Aber wer gehört noch zu der Gruppe, innerhalb derer ich mich sozial verhalten will? Mal ganz ehrlich: Da gibt es weit entfernt viele Menschen, die ich nicht kenne und für deren Leben ich mich auch nicht die Bohne interessiere. Unterdessen schlage ich kräftig meine Flügel und richte damit Dinge an, die mir nicht bewusst sind und für die ich keine Verantwortung übernehmen will, ich arrogante Kuh! Ich überlasse anderen die Brutalität und gucke weg. Das ist nicht schön. Ich will es auch nicht beschönigen, aber vielleicht schaffe ich es ja, mich ein wenig zu bessern.

Ich mag keine Leute, die ständig die eigenen Ellbogen nach außen drehen und mit einem lauten „Ich, ich, ich!!!“ auf den Lippen durch die Gegend rennen. Ich weiß auch, dass es so etwas wie einen gesunden Egoismus gibt, und ich hoffe insgeheim, dass meine Portion Egoismus irgendwie noch vertretbar ist. Wächst die Zahl der Egoisten in unserer Gesellschaft eigentlich gerade? Ist das krank? Hat das einen Namen?

Mein persönliches (Schimpf-)Wort dafür heißt Soziallegastheniker. Und ja, ich möchte mich über diese Leute beschweren!

Also gerade jetzt in dieser Sekunde fällt mir zum Beispiel die Tante ein, die sich da vorhin auf der Straße wieder vorgedrängelt hat. Richtig geschnitten hat sie meinen Weg! Alle hinter mir mussten abbremsen, weil ich abbremsen musste, nur weil sie unmittelbar vor mir eingeschert ist und direkt im Anschluss ihr Tempo so deutlich gedrosselt hat!! Als ob es insgesamt schneller gehen würde, wenn man noch vorne reinflutscht und dann erstmal stehen bleibt, weil man ja jetzt drin ist! Das ist die häufigste Ursache für Staus. Einer quetscht sich rein und tritt dann auf die Bremse, dahinter summieren sich die einzelnen Reaktionen derart, dass am Schluss ganz viele auf der Stelle stehen.

Ein paar Kilometer weiter hatte ich die Tante wieder eingeholt, sogar überholt und dabei einen Blick zu ihr herüber riskiert. Was soll ich sagen? Die sah schon so aus, als würde sie auch in anderen Situationen rücksichtslos ihr Ding durchziehen! So ein frustriertes Gesicht! Mit hoch erhobener und zugleich energisch gebogener Hakennase. Aufgepfropft auf einen langen Hals. War der Kopf vielleicht nur so weit nach vorne gereckt, um den nächsten Verkehrsteilnehmer besser jagen zu können? So etwas habe ich schon länger nicht mehr gesehen. Richtig schütteln musste ich mich. Aber was gucke ich auch rüber, ich Dummerchen!

Einen Stau löst man auf, indem man die Abstände in der Perlenkette so atmen lässt, dass sich ein gleichmäßiger Fluss ausbildet, der dann Stück für Stück wieder Tempo aufnehmen kann. Und dazu kann jeder einen kleinen Beitrag leisten. „Das ist ein Gemeinschaftswerk!“, brülle ich also zu der Tante hinüber.

Ich schüttle mich, besinne mich endlich darauf, dass ich ja immer noch gemütlich zu Hause sitze und ziehe meine Decke ein wenig fester um mich.

Und dann fällt mir ausgerechnet ein Mann ein, den ich nur ganz flüchtig kenne. Der hat mir mal erzählt, dass der sich für sein Privatleben ganze sechs Stunden am Tag gönnt. Von denen schläft er vier Stunden, weil er nach achtzehn Stunden Arbeit schlicht nicht mehr kann. Da wäre ich auch fertig! Seine Frau ist ihm abhandengekommen. Er weiß aber nicht, wieso. Ich fürchte, er weiß noch nicht einmal so genau, wann das passiert ist. Sie hat ihm jedenfalls gesagt, dass sie lieber kostbare Zeit mit ihm verbringen möchte, als ohne ihn in seinem Geld zu schwimmen. Ja, das hat sie wohl schon häufiger formuliert. Und er? Wirklich alles hat er gegeben, um ihr ein tolles Leben bieten zu können! Wieso hat sie ihn da unbedingt verlassen müssen?!? Er hat keine Ahnung!

Vor allem hat er keine Ahnung, wie dieses geheimnisvolle soziale Leben funktioniert. Dieser Mann weiß schlicht nicht, was er da machen muss. Das Gespür für die Bedürfnisse anderer Menschen ist ihm fremd. Klar, er denkt: „Was würde ich jetzt haben wollen? Also, wenn ich an ihrer Stelle wäre.“ Damit gibt er sich richtig Mühe. Und dann versucht er, entsprechend zu handeln. Im Anschluss nimmt das Schicksal seinen bereits bekannten Lauf.

Ihm entgeht völlig, dass er ihre Rolle aus ihrer Perspektive mit all ihren persönlichen Eigenschaften regelrecht einnehmen muss, um etwas über ihre Bedürfnisse herausfinden zu können. Er muss wenigstens einen Moment lang versuchen, ganz „sie“ zu sein. Und eben nicht er selbst an ihrer Stelle! Dieser Unterschied ist immens wichtig!!

Leider gelingt es ihm nicht, sich auf diese Weise in die andere Person hineinzufühlen, und so kann er sie sozial nicht „lesen“. Ganz wie bei der als Legasthenie bekannten Leseschwäche, eben nur bezogen auf soziale Funktionen und Verhaltensweisen.

Jetzt ist mir endgültig kalt. Ich stehe auf, gehe in die Küche und setze Teewasser auf. Gitti kommt nach Hause. Schon am Geräusch ihrer Füße auf der Treppe kann ich hören und sogar in meinen eigenen Beinen spüren, dass sie vergnügt ist. Wie schön! Das färbt augenblicklich auf mich ab. Gitti wünscht sich einen kleinen gemeinsamen Spaziergang. Ich breche den Teewasserkochvorgang ab. „Willst Du mit mir in den Nachbarort laufen und dort ein Eis essen?“ Sie will. Also los!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Eine spannende Selbstreflexion!
    Danke für die immer wieder gute Unterhaltung!
    Geh nicht so hart mit dir selbst ins Gericht 😁

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