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Textsicher oder so

Morgen könnten wir ins Theater gehen. Laut Gitti wartet dort eine spannende Adaption von „Nora“ auf uns.

Kreuzworträtsel-sicher tippe ich sofort darauf, dass es um das berühmte Drama von Henrik Ibsen geht. Spontan stelle ich eine kleine Suchanfrage an mein Gedächtnis und speise sie mit den Stichwörtern „Ibsen“ und „Nora“. Das Ergebnis ist beschämend. Ich sehe ein gelbes Reclam-Heft vor meinen Augen, weiß aber nicht mehr, worum es in dem Stück geht.

Gitti hat von Adaption gesprochen. Das ist meine Chance, die klaffende Wissenslücke vielleicht durch geschickt gestellte Rückfragen unauffällig schließen zu können. Zuerst erfahre ich, dass Ibsens Stück in die Gegenwart übertragen wurde. Mit etwas Geduld bringe ich mehr Details in Erfahrung. Das Werk ist 1879 erschienen und trägt den Untertitel „Ein Puppenheim“.

Ein winzig kleiner Erinnerungsfetzen macht sich in mir auf den Weg, schafft es aber noch nicht so richtig an die Oberfläche. Ich bin lange noch nicht im Bilde. Gitti klärt mich weiter auf. Die Protagonistin Nora wird von ihrem Mann als Teil seines Besitzes angesehen. Er liebt sie, kommt jedoch nicht auf die Idee, dass sie eine ernst zu nehmende, eigenständige Person ist. Zu der Zeit, in der das Stück spielt, ist das völlig normal. Nora begehrt dagegen auf. Sie kann nicht länger das Püppchen im Puppenheim bleiben und bricht aus.

Das Stück, das morgen aufgeführt wird, überträgt also diese Geschichte in die Gegenwart. Das könnte durchaus spannend werden. Gitti und ich beschließen, uns kurzfristig um Karten zu bemühen. Kurz darauf vermeldet Gitti, dass sie für uns noch zwei Plätze reservieren konnte. Wie schön!

Am nächsten Tag geht es los. Nach dem Feierabend und einem kurzen Abendessen fahren wir zum Theater. Dort haben wir noch ein bisschen Zeit, um uns mit einem kleinen Getränk auf den weiteren Verlauf des Abends einzustimmen. Voller Vorfreude beobachten wir, wie sich das Haus langsam mit Besuchern füllt. Als ich gerade mein Glas geleert habe, öffnen sich auch schon die Pforten zum Saal. Gitti und ich nehmen unsere Plätze ein.

Direkt vor mich setzt sich eine Frau, die im Stehen schon fast zwei Meter misst. Ich habe sie vorhin schon im Foyer bemerkt. Die junge Frau hat alle ihre Haare nach oben frisiert. Mitten auf ihrem Kopf thront infolgedessen jetzt ihr zu einem Knoten zusammengedrehter Zopf. Ich kann kaum an dem Haarhaufen vorbeisehen. Ihr Kopf alleine verdeckt schon einen Teil des für mich bis eben noch komplett sichtbaren Bühnenbildes. Ich setze mich ganz aufrecht hin. So erkenne ich schon mehr. Mit dem Dutt obendrauf ist es allerdings für mich nicht mehr möglich, eine Position zu finden, in der ich eine freie Sicht auf die Bühne hätte. Bald darauf wundert sich Gitti ein wenig über mein Anlehnungsbedürfnis, dem ich heute so ausgiebig nachgebe.

Die Vorstellung ist großartig. Das Stück ist frech, schwungvoll und ideenreich inszeniert. Es bringt den Stoff tatsächlich in die Gegenwart und stellt mit Leichtigkeit einen Vergleich der Rollenbilder zwischen damals, also vor 145 Jahren, und heutzutage an. Das Stück zeigt auf, was sich im Lauf der Zeit verändert hat und was nicht – auch in unseren Gesetzbüchern. Manch verstaubtes Rollenverständnis spukt leider immer noch nahezu unverändert durch die Köpfe der Menschen, die in unserer modernen Gesellschaft zusammenleben. Ich hoffe inständig darauf, dass wir uns nicht zurückentwickeln. Mir ist wichtig, dass Lebenspartner sich auf Augenhöhe begegnen und ihr Leben wirklich gleichberechtigt miteinander führen.

Nach dem Schlussapplaus machen wir uns wieder auf den Heimweg. Morgen früh muss ich arbeiten, deshalb kehren wir nicht noch auf einen Absacker irgendwo ein. Unterwegs tauschen wir uns über das Theaterstück aus, dann lauschen Gitti und ich der Musik und den Berichten, die aus dem Autoradio dringen.

Nana Mouskouri, die berühmte griechische Sängerin und Politikerin, ist gerade stolze 90 Jahre alt geworden. Wow, wer hätte das gedacht! Ihr zu Ehren ertönen nun alte Lieder, die wir alle kennen, aber schon lange nicht mehr gehört haben. Gitti dreht die Lautstärke hoch.

Frau Mouskouri singt den Titel „Guten Morgen Sonnenschein“.

Das ist ein richtig fröhliches Lied. Gitti und ich tanzen im Sitzen mit. Auf einmal erhasche ich ein Textstück aus dem Refrain. Da blieb doch jemandem die Nacht verborgen, und nun soll er darüber nicht traurig sein! Interessant!

Ich schaue zu Gitti hinüber, und die guckt genauso erstaunt aus der Wäsche wie ich. Sie dreht den Ton noch etwas lauter. Frau Mouskouri singt mit ihrer glockenklaren Stimme indes weiter.

Sie lädt den Sonnenschein ein, hereinzukommen. Dann kommt eine Strophe, deren Text ich wohl nie so richtig realisiert habe. Den ersten Teil davon habe ich soeben schon wieder verpasst, aber dann erklingt ganz fröhlich, dass es nun geschehen ist, und dass sie auch ohne das von ihr angesungene „Dich“ glücklich wird.

Die Sängerin tut kund, dass sie heute Nacht die allerschönsten Stunden ihres Lebens gefunden hat, während der Adressat des Liedes schlief und schließt mit der Feststellung, dass es eben so ist. Es wirkt, als ob sie diesen Umstand mit einem Schulterzucken abtäte – vor lauter Glück!

Gitti und ich prusten gemeinsam los. Das ist ja total witzig!

Lachend geben wir uns dem Lied hin. Teile des Refrains trällern wir aus voller Kehle mit. Das Lied muss ich mir unbedingt demnächst mal in Ruhe anhören, denn den kompletten Text habe ich noch gar nicht erfasst.

Festzustellen bleibt: Ich bin auch hier nicht textsicher oder so …

Am nächsten Morgen recherchiere ich den Text im Internet und bringe Gitti einen Cappuccino ans Bett. Wie üblich singe ich kurz die kleine Zeile aus einem Lied von Peter Cornelius an: „Der Kaffee ist fertig!“

Gitti nimmt ihre Tasse lächelnd entgegen. Ich lächle zurück. Und dann schenke ich ihr noch ein fröhlich geträllertes: „Guten Morgen, guten Morgen …“

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