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Den Tag gerettet

Es ist Samstag Vormittag. Am Himmel hängen dunkle Wolken, und auch ich hänge – und zwar etwas durch. Trübe Gedanken wabern durch mein Hirn. Gitti fragt, ob ich sie zum Markt begleiten mag. Eigentlich mag ich nicht so gerne. Da draußen ist es noch kalt. Ich will Gitti aber auch nicht hängen lassen. Also werde ich den inneren Schweinehund überwinden, der mich so gerne auf dem Sessel sähe, wo ich in eine Decke eingekuschelt träge vor mich hin sinnierte.

Der Schweinehund darf auf keinen Fall alleine zu Hause bleiben, sonst fällt er nachher nur wieder freudig über mich her! Ich stelle mir vor, wie ich ihm das Gassigehen schmackhaft mache. Draußen werde ich den blöden Schweinehund dann abschütteln. Ich weiß auch schon, wie ich das anstellen kann. Am Eingang des Marktes steht ein Schild. Es ist rund, hat einen roten Rand auf weißem Grund, und ein dicker roter Balken streicht schräg von oben links nach unten rechts die schwarze Silhouette eines Hundes durch. Dort werde ich meinen Schweinehund zurücklassen. Zusammen mit den Schweinehunden der anderen Leute kann er ein bisschen spielen. Vielleicht trifft mein Schweinehund heute sogar seine große Liebe, eine fesche Schweinehündin, die fortan ihr Leben mit ihm teilt. Gitti und ich werden den Markt auf dem Rückweg einfach über einen der anderen Zugänge verlassen. Der Plan ist ausgezeichnet, finde ich. Er muss unbedingt aufgehen!

Gitti und ich rüsten uns gegen den kalten Wind, der draußen weht. Schals, dicke Jacken und warme Schuhe werden uns schützen. Zu dritt laufen wir schnellen Fußes gen Markt, also Gitti, der Schweinehund und ich.

Auf dem Markt herrscht geschäftiges Treiben. Vor dem Wagen mit den Metzgerwaren steht Hubsi hinter seiner Frau Henni. Hubsi ist der Nachbar mit den lauten Werkzeugen, die uns sicher bald wieder ordentlich auf die Ohren und damit auf die Nerven gehen werden. Er trägt einen großen Korb und guckt hungrig, während Henni dem Metzger zuruft, was später bei ihr in die Pfanne und dann auf den Tisch kommen wird. Am Gemüsestand halten wir einen kleinen Plausch mit einer netten Dame, die wir aus dem Autohaus kennen.

Vor dem Käsewagen hat sich eine längere Schlange gebildet. Gitti steht nicht so auf Schlange stehen. Ihre Geduld gibt das heute nicht her. So stürmt sie ohne mich los, um Gemüse und andere Leckereien in einem Tempo zu besorgen, welches ihr mehr entspricht. Ich reihe mich derweil in die Schlange ein.

Es dauert.

Ich beginne, die mit mir wartenden Menschen genauer zu betrachten. Ganz vorne steht ein altes Ehepaar. Gemeinsam und in aller Ruhe suchen sie Käsesorte um Käsesorte aus. In ihrem Korb liegt bereits ein herrlich duftendes Brot. Vor meinem geistigen Auge sehe ich förmlich, wie sie sich später an dem einen und dem anderen Glas Rotwein erfreuen, während sie die reichhaltige Käseplatte langsam, aber stetig putzen. Das wird sicher ein Fest!

Hinter mir tritt ein mittelalter Mann schnell und immer wieder von einem Fuß auf den anderen. Seine dünnen Beine stecken in engen Hosen und sommerlichen Schuhen. Ein Daunenjäckchen hängt lose um ihn herum. Immerhin thront auf seinem Kopf eine dicke Zipfelmütze. Die graue Mütze ziert ein großer roter Bommel, der jede Gewichtsverlagerung des Mützenträgers mit zittrigem Wackeln untermalt.

Besser gegen die Kälte gewappnet ist die Frau, die schräg vor mir steht. Sie wartet fast reglos und blickt ruhig und geduldig mit erhobenem Kopf nach vorne. Die Hände hat sie tief in die Taschen ihres wattierten Mantels gegraben. Ihren Mund umspielt ein eingefrorenes, aber dennoch sympathisches Lächeln.

Vor dem alten Ehepaar türmt sich schon ein beachtlicher Haufen bereits für sie portionierter Käsestücke auf der Theke. Mit seinem Gehstock zeigt der Mann nun auf einen großen Edamer, der rechts hinten in der Ecke der Auslage liegt. Das Stück ist etwa so groß, wie ein Viertel eines ganzen Käserades. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, so lecker sieht dieser Käse aus. Oben auf dem großen Stück liegt ein kleineres Stück Edamer. Es misst etwa ein Drittel einer großen Scheibe aus dem schönen Käseviertel und ist gut zwei Zentimeter dick. Die Dame hinter der Käsetheke ergreift nun diese kleinere Käsescheibe und reckt ihren Arm weit nach oben. Sie fragt das Ehepaar, ob es dieses Stück sein darf. Die beiden tauschen einen zärtlichen Blick untereinander aus, dann sagt er: „Etwas mehr darf es schon sein!“

Alle umstehenden Personen schauen plötzlich aufmerksam zu, als die Käseverkäuferin beherzt die kleine Scheibe zur Seite legt und gleich darauf das große Stück Edamer schwungvoll in die Höhe hebt. Lächelnd stellt sie ihre nächste Frage: „Dann also dieses?“

Lachend applaudieren wir alle, der Herr und seine Frau eingeschlossen. Während der gute Mann seine Größenangabe präzisiert, kommt Gitti mit einem gut gefüllten Einkaufskorb zu mir zurück und hängt sich bei mir ein. Sie fängt die Stimmung auf, verzichtet jedoch auf weitere Fragen.

Der Himmel entdeckt in diesem Moment seinen Sinn für großen Kitsch: Die dicken Wolken geben ein kleines blaues Stück des Himmels frei. Hindurch scheint sogleich die Sonne. Sie taucht den Käsewagen und die kleine Schar davorstehender Menschen in ein warmes Licht. Und auf allen Gesichtern breitet sich ein Lächeln aus.

Gitti wundert sich, auf welchem Weg ich nach unserem Einkauf den Markt verlassen will, verlässt sich aber darauf, dass ich mir irgendetwas dabei denke. Von dem ausgesetzten Schweinehund weiß sie nichts. Zu zweit erreichen wir wenig später unser gemütliches Zuhause, also Gitti und ich. Über den Verbleib des Schweinehundes weiß ich nichts.

Ich lächle vor mich hin und sende der lieben Käseverkäuferin in Gedanken meinen herzlichen Dank. Sie hat mir gerade doch glatt den Tag gerettet!

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