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Seltsam achtsam

An der Kasse hat sich eine kleine Schlange gebildet. Ein paar einzukaufende Produkte ruhen in meinem Arm, geduldig stehe ich an. In solch einer Situation wandern meine Augen umher. Sie schweifen über anderer Leute Einkauf, fangen auf, wie die aktuelle Mode getragen wird und starren ansonsten kleine Löcher in die Luft. Meine Ohren sind so halbwegs auf Empfang. Ganz leise summe ich eine schöne Melodie. So vertreibe ich mir die ansonsten nutzlose Wartezeit.

„Der ist so seltsam in letzter Zeit. Irgendwie achtsam. Echt seltsam!“, höre ich von etwas weiter vorne aus der Schlange. Ah, das klingt interessant! Allzuviel erfahre ich jedoch leider nicht. Die Schlange ist zu kurz für viele Details, und die Kassiererin ist unglaublich schnell. Das kleine Hupen des Kassenscanners verschluckt zudem so manche Silbe des Gesprächs, das die beiden Damen da vorne gerade führen. Ich empfinde das als extrem unerfreulich.

Immerhin weiß ich bald, dass die Damen sich über der einen Dame Freund unterhalten. Und dessen Verhalten mutet offenbar so seltsam an, dass seine Freundin von banger Sorge umgetrieben wird. Um ihn? Oder um sich selbst? Irgendetwas, wieder vom Scanner-Hupen verschluckt, ist bei ihm jedenfalls nicht mehr normal. Und, das muss man sich mal vorstellen, er bemüht sich so sehr! Geradezu angsteinflößend aufmerksam gebärdet sich dieser ansonsten doch eher normale Mann nun seit Wochen schon. Das ist nicht mehr normal, finden beide Damen!

Die Kassiererin klappt geräuschvoll die Kassenklappe zu. Jetzt hänge ich da hinten in der Schlange fest, während die beiden Damen diskutierend den Laden verlassen! Ich bin nicht neugierig, aber auch mich treibt inzwischen um, was der unbekannte Mann bloß vorhat. Die Damen sind verschwunden, mir bleibt allein die Spekulation.

Auffällig aufmerksam, seltsam achtsam, geradezu pedantisch sorgsam, das sind die wenigen Aussagestücke, auf die sich meine Überlegungen stützen können. Ich veranstalte ein kleines Brainstorming mit mir selbst. Bereitet er einen Heiratsantrag vor? Verwandelt sich der Mann gerade zum Stalker? Gibt er sich einfach mehr Mühe, nachdem seine Freundin sich über seine bisher so stoffelige Art beschwert hat? Oder versucht der Herr etwa, eine Affäre zu vertuschen? Beging er jüngst ein schweres Verbrechen und sorgt sich nun darum, doch noch erwischt und als Täter entlarvt zu werden?

Natürlich komme ich nicht weiter. Außerdem geht mich das alles nichts an. Vor mir stehen noch zwei Leute in der Schlange. Deren Einkaufsliste war offensichtlich recht lang. Also habe ich noch Zeit, mich dem Fall ein bisschen hinzugeben und der Fantasie freien Lauf zu lassen. Da kann die Kassiererin noch so schnell sein!

Ich entwerfe ein genaueres Bild. Nachbar Hubsi muss als Vorlage herhalten. Der ist schon lange mit Henni verheiratet, fällt mir ein. Damit scheidet der Heiratsantrag aus. Die anderen Möglichkeiten finde ich gerade sowieso viel spannender. Hubsi haben Gitti und ich doch neulich noch im Baumarkt gesehen. Dort hat er sich für Kettensägen interessiert. Den Schirm seiner Mütze hatte Hubsi tief ins Gesicht gezogen. An der Kasse lud er dann noch mehrere Rollen Müllsäcke in den Einkaufswagen. Von der besonders stabilen Sorte. Reißfest auch bei größeren Lasten. Zudem erstand Hubsi an diesem Tag eine Schaufel und eine große Taschenlampe! Gruselig. Wann habe ich eigentlich Henni zum letzten Mal gesehen?!?

Oder hatte Hubsi eine kleine Affäre, der er sich nur mordend entziehen konnte? Macht Henni sich nun Sorgen, weil er sie plötzlich so aufmerksam umhegt und sich seit Wochen von seiner Schokoladenseite präsentiert? Mühsam gelingt es mir, das Mordszenario fallenzulassen. Das passt nicht zu Hubsi.

Die Stalker-Nummer ist auch nichts für Hubsi.

Kurz bevor die Kassiererin sich den Waren des vor mir stehenden Kunden widmet, bin ich überzeugt von diesem Szenario:

Hubsi hat heimlich einen Kurs besucht. Henni ahnt ja nicht, wozu ihr Hubsi ihr zuliebe in der Lage und bereit ist. In diesem Kurs hat Hubsi Techniken erlernt, mit deren Hilfe er nicht immer gleich ausflippen und laut schreien muss, so dass es die ganze Nachbarschaft unterhält. Hubsi kann sich neuerdings geistesgegenwärtig in einen hellwachen Zustand versetzen. Ohne Ablenkung durch Gedankenblitze, Erinnerungstrigger, Fantasien und vor allem starke Emotionen kann er nun seine Umwelt, seinen Körper und sogar sein eigenes Gemüt wahrnehmen. Einfach nur wahrnehmen. Angucken, ohne direkt zu bewerten. Und so steht Hubsi auf der Terrasse seines Hauses, atmet ruhig und gleichmäßig – und reagiert einmal erfolgreich nicht auf den neuesten Affront seiner Umwelt. Zumindest nicht sofort. Mit Hilfe der neuen Technik ist Hubsi achtsam sich selbst und anderen gegenüber. Kein Geschrei, kein Platzhirsch-Gebaren. Keine Eskalation. Plötzlich findet Hubsi neue Wege der Verständigung. Er hört aktiv zu, vermeidet unnötige Konflikte …

Henni hat sich zwar einen besonneneren Hubsi gewünscht, aber so besonnen, achtsam, ausgeglichen und friedfertig nun auch wieder nicht. Das ist nicht mehr ihr Hubsi! Dieses Verhalten ist Henni in höchstem Maße suspekt. In tiefer Sorge und gemeinsam mit ihrer besten Freundin bricht Henni zum Wocheneinkauf auf. Und an der Kasse diskutieren sie darüber, was bloß mit Hubsi los ist, der in letzter Zeit so seltsam achtsam ist.

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